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S21-Abstimmung: Rück- und Ausblick

Nach dem Debakel bei der Volksabstimmung über den Ausstieg des Landes Baden-Württemberg aus der Finanzierung von Stuttgart 21 versuchen wir, die Hintergründe zu beleuchten und das Ende der S21-Kampagne bei Campact zu erläutern.

Tausende Menschen haben im Vorfeld der Volksabstimmung alles gegeben. Teils über viele Wochen hinweg informierten sie überall im Land die Bevölkerung über das Milliardengrab Stuttgart 21. Und trotzdem hat es am 27.11.2011 nicht gereicht – eine bittere Enttäuschung. Eine Mehrheit von 58,8 Prozent der Wählerinnen und Wähler hat gegen einen Ausstieg Baden-Württembergs aus der Finanzierung des Großprojekt votiert und ihm damit gleichzeitig erstmals eine breite demokratische Legitimation verliehen.

Umgang mit der Volksabstimmung

Lange Zeit wurde in der Bewegung gegen Stuttgart 21 debattiert, ob die Volksabstimmung nicht boykottiert werden müsste. Hierfür sprach insbesondere das hohe Quorum, die nicht ermittelten Kosten und Ausstiegskosten, der Umgang der Bahn mit ihren Kostenberechnungen und eine wahrscheinliche Verfassungswidrigkeit der Finanzierungsverträge. Wichtige Akteure innerhalb der Bewegung, wie die Grünen und der BUND, hatten sich allerdings schon frühzeitig auf die Teilnahme an der Abstimmung verständigt, sodass ein Boykott weitgehend ins Leere gelaufen wäre. Campact hat sich deshalb dazu entschlossen, nach Kräften die Kampagne für ein JA zum Ausstieg zu unterstützen, um, wenn auch nicht das Quorum, so doch zumindest eine Mehrheit für den Ausstieg zu gewinnen. Daneben spielte es für Campact eine wichtige Rolle, dass es sich bei dieser Volksabstimmung um die erste seit 40 Jahren in Baden-Württemberg handelte und wir direktdemokratische Elemente fördern wollen.

Abstimmungsbeteiligung

Verglichen mit anderen Volksabstimmungen und -entscheiden war die Beteiligung an der Abstimmung über Stuttgart 21 sehr hoch. Wie Mehr Demokratie erläutert, nahmen an den vergangenen Volksentscheiden in der Bundesrepublik durchschnittlich 54,8 Prozent der Abstimmungsberechtigten teil, wenn diese an andere Wahlen gekoppelt waren und 38,1 Prozent, wenn dies nicht der Fall war.

Die Beteiligung von 48,3 Prozent bei der Abstimmung über den Ausstieg Baden-Württembergs aus der Finanzierung von Stuttgart 21 liegt damit am oberen Rand bisheriger Abstimmungen. Sie schwankte aber stark zwischen 67,8 Prozent in Stuttgart 33,3 Prozent in Mannheim. Aus diesen Zahlen wird deutlich, dass die Menschen im Lande – trotz der langwierigen Debatte – immer noch sehr stark zu mobilisieren waren.

Abstimmungsverhalten

In nur 7 der 44 Stimmkreise haben die Wählerinnen und Wähler mehrheitlich für den Ausstieg gestimmt. Die mit 66 Prozent klarste Zustimmung zur Gesetzesvorlage kommt aus Freiburg. Zur Überraschung vieler liegen alle Kreise mit einer Mehrheit für den Ausstieg entlang des Rheintals – Stuttgart gehörte nicht dazu. Das legt nahe, dass auch die Forderung des Protests nach einer Abstimmung in der Region Stuttgart über Stuttgart 21 als Projekt an sich (rechtlich gibt es für eine solche Abstimmung keine Grundlage) kein anderes Ergebnis erbracht hätte.

Das Abstimmungsverhalten scheint teilweise mit der Größe der Gemeinden im Wahlkreis zu korrelieren. In den Universitätsstädten, die gleichzeitig die größten Städte sind, wurde sehr viel häufiger JA angekreuzt als in der Provinz. Ob dies allerdings auf den Bildungsgrad oder auf die sonstige Zusammensetzung der Bevölkerung zurückzuführen ist, bleibt bisher unklar. Was auffällig ist, dass die Zustimmung oder Ablehnung nicht mit der Beteiligung an der Abstimmung korreliert wohl aber eine Zustimmung mit dem Stimmenanteil der Grünen bei der Landtagswahl. Auch eine Korrelation zwischen dem CDU-Ergebnis und den Nein-Stimmen ist nur in Ansätzen vorhanden.

Die Niederlage in der oberschwäbischen Provinz reißt Stern-Autor Arno Luik in seinem jüngsten Artikel kurz an. Seine Erklärung, dass auf dem Land eine sehr große Autortitätshörigkeit besteht und Vorgaben der Bürgermeister häufig Folge geleistet wird, klingt schlüssig, ihr fehlt aber leider eine statistische Basis. Ein weiterer Grund für ein Nein könnte sein, dass Wählende den Grünen nach dem Ergebnis der Landtagswahl “eins auswischen” wollten. Dies wurde immer wieder in den Medien und im Internet geäußert, aber auch ihm fehlt eine statistische Basis.

Das Abstimmungsverhalten in Stuttgart birgt das größte Rätsel. Dass die Stadt tief gespalten war, war schon lange klar. Gefühlt – und auch durch frühere Befragungen unterfüttert – war eine Mehrheit für den Ausstieg. Die Innenstadtbezirke stimmten mit Ja, die Stadt insgesamt aber mehrheitlich mit Nein. Woran liegt dies? Eine Radikalisierung des Protests kann schwerlich als Begründung herhalten, da sie in beiden Lagern stattfand. Vielleicht war die Mehrheit des Konflikts auch nur überdrüssig und sah in einem Nein den schnellsten Weg aus dem jahrelangen Gezerre um das Projekt.

Eine Ursache des Abstimmungsdebakels ist wahrscheinlich auch, dass der Protest nach der sogenannten Schlichtung – und vor allem nach der Landtagswahl – den Rückhalt in Teilen des Bürgertums nach und nach verloren hat. In dieser Bevölkerungsgruppe wird sehr stark auf Dialog gesetzt, was in den sich immer stärker radikalisierenden Teilen des Protests nicht immer auf Gegenliebe gestoßen ist.

Wahlkampf

Die S21-Gegner waren finanziell im Wahlkampf eindeutig unterlegen. Auch waren die Fürsprecher der Gegenseite viel einflussreichere Personen, wie Daimler-Chef Zetsche. Gleichzeitig kommunizierten die Projektbefürworter sehr viel aggressiver, sodass sie in der Lage waren, die Projektgegner fast den kompletten Wahlkampf über vor sich her zu treiben. Die Ausstiegsbefürworter hatten im Vergleich ein viel größeres Netzwerk an Aktiven im ganzen Land, mit dem sie durch persönliche Kontakte und Verteilaktionen in Ansätzen den Nachteil wieder wettmachen konnten.

Daneben hat der Kampagne für einen Ausstieg wahrscheinlich auch das Verhalten der grünen Teile der Landesregierung geschadet, die, entgegen der Ankündigung von Ministerpräsident Kretschmann, alles zu tun, um S21 zu stoppen, an vielen Stellen falsch handelte und etliche Chancen ungenutzt ließ. So verpasste sie es, die Bahn unter Druck zu setzen, die negativen Seiten von S21 und die positiven Seiten des Kopfbahnhofs hervorzuheben (vgl. hierzu die Kommunikation zwischen den Ingenieuren 22 und dem Verkehrsministerium). Auch wurde der geplante Polizeieinsatz von der Regierung nicht kommentiert, obwohl (oder weil) er doch die sehr starken Emotionen, die mit dem sogenannten Schwarzen Donnerstag verbunden sind, hätte wecken können. Im Gegenteil war man nicht erfreut, dass die Informationen darüber überhaupt den Weg an die Öffentlichkeit gefunden haben. Ebenso schwieg die Regierung zu den von Spiegel und ZDF erhobenen Vorwürfen, die alte Landesregierung hätte bewusst eigene Kostenberechnungen geheimgehalten, um die Zustimmung in SPD und Öffentlichkeit nicht zu gefährden.

Ob diese Punkte allerdings ein Problem der Grünen als Partei oder aber der Bewegung gegen Stuttgart 21, deren Teil sie bekanntlich sind, an sich ist, bleibt unklar. Schon im Rahmen der sogenannten Schlichtung und agierte die Bewegung häufig weniger taktierend als ehrlich und mit dem festen Glauben an das Gute im Gegenüber. Dieses Gebaren wurde von der Gegenseite oft schändlichst ausgenutzt.

Auch verpassten wir es, die wirklichen Knackpunkte der Debatte zu erspüren. Die Frage der Ausstiegskosten und der Beteiligung der einzelnen Projektpartner an den Gesamtkosten wurde – bis auf die Infooffensive – von allen großen Akteuren sträflichst vernachlässigt.

Ausblick

Momentan sprechen Grüne und SPD davon, Stuttgart 21 jetzt bauen zu wollen und dabei auf jeden Fall den Kostenrahmen einzuhalten. Diese Einschränkung ist wahrscheinlich das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt ist. Im Gegenteil ist es üblich, dass sich öffentliche Bauvorhaben in ihrer Bauphase extrem verteuern. Das liegt teilweise daran, dass nahezu alle Kostenkalkulationen am Ende politisch durchsetzbare Preise ergeben, die häufig mit der Realität wenig zu tun haben.

Insbesondere beim Neubau von Schienenwegen sind hohe Kostensteigerungen die Normalität – auch, weil diese sich auf die Bilanzen der Deutschen Bahn AG positiv auswirken. So werden die Kostensteigerungen an den Bund und damit an den Steuerzahler weitergereicht, wohingegen die Bahn einen bestimmten Prozentsatz der Baukosten für ihre Planungsleistung bekommt.

Wenn erst einmal ein halber Tiefbahnhof gebaut sein sollte und der Bahn dann das Geld ausgeht, wird sie sich auf die sogenannte Sprechklausel der Finanzierungsvereinbarung berufen, nach der die Vertragspartner zu diesem Zeitpunkt klären, wer welche Anteile an den Mehrkosten trägt. Zu diesem Zeitpunkt gibt es voraussichtlich keinen Weg mehr zurück, sodass die Projektpartner und damit die Steuerzahlenden gezwungen sein werden einzuspringen.

Will man Stuttgart 21 noch beenden, ist es zwingend notwendig, das Projekt vor größeren Baumaßnahmen – vor allem vor den großen Tunnelarbeiten zu stoppen. Nur rätselt die komplette Bewegung momentan über das Wie.

Was hat die Bewegung gegen Stuttgart 21 nicht alles versucht: Strafanzeigen, Ziviler Ungehorsam, Petitionen und Unterschriftensammlungen, Demonstrationen, eine Landtagswahl und tausende von Informationsveranstaltungen. Bisher haben all diese Versuche zwar Baden-Württemberg nachhaltig verändert, ihr eigentliches Ziel allerdings verfehlt.

Wir als Campact haben unsere Kampagne zu Stuttgart 21 nach der Volksabstimmung eingestellt, weil wir die Mehrheitsentscheidung akzeptieren. Campact hat selbst die verstärkte Nutzung von Volksentscheiden gefordert. Wie glaubwürdig wären wir, würden wir uns nun gegen eine auf diesem Wege gefällte Entscheidung wenden?
Unserer Analyse nach gibt es zur Zeit keine politischen Prozesse und bevorstehenden Entscheidungen, die durch unsere Art des Handelns beeinflusst werden können (Windows of Opportunity). Dies lässt Online-Appelle und Aktionstage zur Zeit wirkungslos erscheinen.
Campact hat Stuttgart 21 aufgegriffen, weil das Bauvorhaben eine Tragweite hat, die über das Bundesland Baden-Württemberg hinausgeht und Probleme der Entwicklung der Bahn insgesamt widerspiegelt. Eine Bahn für alle und eine Ausrichtung an Gemeinwohlinteressen bleibt weiter ein wichtiges Anliegen von Campact.

Veranstaltungshinweis

Am Sonntag, den 4.12. findet ab 10 Uhr im Stuttgarter Rathaus ein „großer Ratschlag“ statt. Hierbei soll diskutiert werden, welche Möglichkeiten es für die Bewegung gibt, das Milliardengrab nach der Volksabstimmung noch zu stoppen.

Autor*innen

Der studierte Architekt Fritz Mielert (*1979) arbeitet als Geschäftsführer beim Bürgerprojekt Die AnStifter in Stuttgart. Zwischen 2011 und 2013 betreute er bei Campact Projekte im Spektrum zwischen Energiewende und Vorratsdatenspeicherung, baute maßgeblich die Parkschützer als eine der wichtigsten Gruppierung im Protest gegen Stuttgart 21 auf und war mehrere Jahre ehrenamtlich bei Greenpeace aktiv. Alle Beiträge

14 Kommentare

Kommentare sind geschlossen
  1. So kenne ich den Mielert:
    Auf den Montagsdemos sammelt er fleissig Spendengelder um dann nach der VA zu sagen: „Ätsch, auf wiedersehen“.

    Campact ? Nie wieder !

    • Hallo Parkschützer,

      ich bin seit Anfang April 2011 bei Campact. Campact sitzt nördlich von Hannover, in Verden an der Aller. Dort bin ich in der Regel Montag bis Donnerstag – und habe deshalb in Stuttgart in dem halben Jahr zwischen April und November nur ein Mal Spenden auf einer Demo gesammelt. Diese Sammlung hatte nichts mit Campact zu tun; sie ging an fluegel.tv.
      Ich habe mein privates Engagement in Stuttgart nach der Volksabstimmung nicht wirklich reduziert; immer noch investiere ich durchschnittlich zehn Stunden die Woche.

      Für Campact gibt es leider momentan wirklich keinen Ansatz, zu Stuttgart 21 aktiv zu werden.

      Die momentane Situation in Stuttgart ist emotional sehr angespannt. Ich würde Sie aber trotzdem bitten, zwischen Personen und Organisationen zu unterscheiden und vor solchen Angriffen sich kurz zu informieren.

      Beste Grüße aus Stuttgart

  2. Hi an alle

    Ja da stimme ich stefan völlig zu!
    Ein vieles Hin und Her von Für- und Gegenargumenten
    stifftet ganz eindeutig Verwirrung!

    Was genau passiert jetzt nochmal, wenn…?
    welche Tatsachen sind belegt?
    Was sagen Fachmänner, was soll angeblich unter der Erde bei Eingriff passieren?
    usw…..

    UNKLARKEITEN noch und NÖCHER
    und diese komische Infobroschüre hat nicht wirklich für
    klare Verhältnisse gesorgt!
    Im Gegenteil:
    HÄÄÄ??Das Für und Wider, die behaupten genau das Gegenteil!!!!????

    Meiner Meinung gab es eindeutig eine
    badenwürttenbergweite Reizüberflutung bei diesem Thema!
    Ja Nein Nein Ja Nein Ja nein

    Festgefahrenheit beider Seiten
    dabei kam eine intensive Aufklärung der Bevölkerung zu kurz…

    Daher eine Aufforderung an alle:
    besonders an die Verantwortlichen und die Politiker
    wir wollen Transparenz und Mitgestaltung des öffentlichen Raums
    und das immer und immer wieder!!!!

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