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Verzerrtes Brüssel: Große Überwachung, kleiner Klimaschutz

Die EU-Kommission und einige Mitgliedsländer wünschen sich eine Chatkontrolle im großen Stil. Diese Möglichkeit zur Überwachung verfolgen sie vehement – während andere, mindestens genau so wichtige digital-ökologische Projekte untergehen. Setzt die EU die falschen Prioritäten?

Das Foto zeigt eine Frau, die in einem dunklen Raum im Bett auf ihrer Seite liegt. In den Händen hat sie ein übergroßes Smartphone, von dessen Bildschirm ein blaues Licht ausgeht. Hinter ihr neben dem Bett steht ein großes, stilisiertes Auge, das mit auf den Bildschirm schaut.
Auf jede Chatnachricht ein aufmerksames Auge haben – das wünschen sich die EU-Komission und die Regierungen der EU-Länder. Foto: Jakob Rieger / Digitale Freiheit [CC BY-SA 2.0]

Warum Äpfel nicht mit Birnen verglichen werden sollen habe ich nie verstanden. Natürlich fallen dabei mehr Unterschiede und weniger Gemeinsamkeiten auf, als beim Vergleich von zwei Äpfeln. Das ist ja der Witz am Vergleichen.

Warum also nicht die Radikalität von digitalpolitischen Kontroll- und Klimaschutz-Projekten vergleichen? Radikalität ist keine sonderlich präzise definierte Messgröße, also fasse ich das behelfsmäßig so: Maximale digitale Überwachung ist, wenn jede Aktivität jeder Person jederzeit erfasst und analysiert wird. Maximaler digitaler Klimaschutz ist, wenn jede Aktivität jeder Person jederzeit klimaneutral ist. Ab hier lautet die Frage, wie weit digitalpolitische Projekte von diesen beiden radikalen Positionen entfernt sind – als Gedankenspiel zur Orientierung vor der anstehenden EU-Wahl.

Digitale Kontrolle: Großprojekte verschieben Limits

Mit der sogenannten Chatkontrolle sollen sämtliche Nachrichten aller Menschen in sozialen Medien, Chats, Webseiten und auch in verschlüsselten Messengern rund um die Uhr automatisch nach sexualisierten Darstellungen von Gewalt gegen Kinder und andere Straftaten durchsucht werden. Treffer in dieser Überwachung sollen an eine dafür zuständige Behörde gesendet werden. Während das EU-Parlament darin einen Generalverdacht gegen die gesamte Bevölkerung sieht und das Projekt im Kern ablehnt, bemühen sich die EU-Kommission und die Regierungen der EU-Länder, das Projekt entgegen jede technische, juristische und fachliche Kritik durchzusetzen. Der jüngste Vorschlag aus Belgien lautet nun: Nutzende sollen der Chatkontrolle selbst zustimmen – wer das nicht macht, kann weder Bilder noch Videos versenden.

Ein weniger bekanntes Projekt ist die Arbeit der sogenannten EU-Going-Dark-Arbeitsgruppe. Hier arbeiten hauptsächlich Strafverfolgungsbehörden, Regierungen und die EU-Kommission an drei Zielen: an der Wiedereinführung einer anlasslosen, flächendeckenden Vorratsdatenspeicherung von Kommunikations-Metadaten aller Menschen in der EU; an neuen Zugriffsmöglichkeiten auf Daten auf Geräten und an neuen Zugriffsmöglichkeiten auf Daten während der Übertragung. Die Regierungen der EU-Länder, aber auch die EU-Kommission liefern sich mit Projekten dieser Art geradezu einen Wettlauf bei digitalen Kontrollprojekten, die die Limits von Grundrechten immer weiter verschieben.

Digitale Nachhaltigkeit: Kleine Schritte groß zelebriert

Digitalpolitischer Klimaschutz in Brüssel zielt auf verbesserte Kreislauffähigkeit und Nachhaltigkeit von elektronischen Produkten. Hier geht es, trotz des erheblichen Widerstands aus rechten und konservativen Lagern und Teilen der Digital-Industrie, auch voran. Es werden zumindest basale Instrumente und Mindeststandards festgelegt, wenn auch mit erheblichen Lücken. Während der Verhandlungen um die neue EU-KI-Regulierung sind viele Vorschläge für mehr digitale Nachhaltigkeit des EU-Parlaments unter den Tisch gefallen. Zum Beispiel die KI-Umweltbilanzierung, den KI-Einsatz für Nachhaltigkeitsziele und die Dokumentation des Energieverbrauchs.

Ähnliche Lücken hat das neue Recht auf Reparatur: Das Verbot reparaturfeindlicher Praktiken wird zunächst nicht für Smartphones, Tablets und Co. gelten. Elektronische Geräte dürfen weiterhin unverkauft zerstört werden und der Energieverbrauch von Software bleibt unreguliert. Die kommende, ebenfalls neue Öko-Design-Verordnung wird die Langlebigkeit und die Recycling- und Reparaturfähigkeit von Elektrogeräten schrittweise verbessern und einen digitalen Produktpass – für Transparenz über den Lebenszyklus – einführen. Zu vielen Details muss die EU-Kommission noch konkrete Vorgaben machen, damit die neuen Regulierungen auch tatsächlich Wirkung zeigen. Eine riesige Lücke bleiben Vorgaben für Software.

Gewählt ausgedrückt

Interessant ist ein Blick auf die sprachliche Rahmung der digital-politischen Arbeit an Kontrolle und Klimaschutz. Die kleinen Schritte im digitalen Klimaschutz sollen zu Kreislaufwirtschaft, Nachhaltigkeit und „Öko-Design“ führen, obwohl es weltweit keine ökologische Herstellung von digitalen Geräten gibt. Schon allein deshalb, weil deren Produktion sehr energieaufwendig ist und viele kritische Rohstoffe verlangt, die nicht umweltneutral abgebaut werden können. Sollten wir Smartphones und Rechenzentren wirklich ein politisches „Öko-Design“-Attribut verleihen, wie bei nachhaltig produzierter Kleidung oder Möbeln, oder verschaukeln wir uns damit selbst?

Der Titel des digitalen Großprojekts der Chatkontrolle, das an allen Ecken und Enden Rechtsprechung und Grundrechte überdehnt, ist in dieser Hinsicht deutlich kleiner und detaillierter gehalten: „Verordnung zur Festlegung von Vorschriften zur Prävention und Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern“. Da könnte es auch um Schutzkonzepte an Schulen oder in Sportvereinen gehen, um Unterstützung für besonders gefährdete Kinder, um bessere Förderung von Hilfseinrichtungen, um Präventionskampagnen die Täter ansprechen oder um verbesserte, um eine Steigerung des Anzeigeverhaltens in der Bevölkerung oder um gezielte Polizei- und Behördenarbeit zum Kinderschutz. Aber das, worum es im Kern geht, ein „Kontroll-Design“, wird nicht genannt.

Korrektur ist die Aufgabe

Was das Gedankenspiel zum Vergleich von digitalpolitischen Kontroll- und Klimaschutz-Projekten zeigt ist, dass Brüssel an ersteren intensiv arbeitet, während es keine digital-ökologischen Großprojekte gibt, die auch nur annähernd so weitreichend und radikal in die Gestaltung der Digitalisierung eingreifen wollen. Langfristig bedeutet das nichts Gutes für die Digitalisierung. Mit der weiterhin fortschreitenden Vernetzung von Menschen, Informationen und Geräten drohen anlasslose Kommunikationskontrollen ausgerollt zu werden, während eine digitale Anpassung an die Klimaveränderungen nur oberflächlich und langsam passiert.
Wir brauchen dringend Menschen in den Parlamenten und in den Regierungen, die hier sozial-ökologisch korrigierend eingreifen!

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Autor*innen

Friedemann Ebelt engagiert sich für digitale Grundrechte. Im Campact-Blog schreibt er darüber, wie Digitalisierung fair, frei und nachhaltig gelingen kann. Er hat Ethnologie und Kommunikationswissenschaften studiert und interessiert sich für alles, was zwischen Politik, Technik, und Gesellschaft passiert. Sein vorläufiges Fazit: Wir müssen uns besser digitalisieren! Alle Beiträge

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