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Migrationsexperte zu Integration: Zivilgesellschaft ist mustergültig – Politik hat Nachholbedarf

Die Zivilgesellschaft in Deutschland sei mustergültig, die Politik schüre dagegen Vorurteile, anstatt sie abzubauen - das ist das Fazit des Migrationsforschers Prof. Dr. Klaus J. Bade.

In unserem Interview erklärt er außerdem, wie Integration gelingen kann – und warum die sogenannte Flüchtlingskrise in Deutschland auch hausgemacht ist. 

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Porträt von Prof. Dr. Klaus J. Bade, Migrationsexperte. Grafik: Zitrusblau/Campact [CC BY-ND 2.0]

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Gelungene Integration: Was ist das überhaupt?

Guten Tag, Herr Bade. Lassen Sie uns über Integration sprechen. Denn darüber spricht ja gerade ganz Deutschland. Ob Integration gelingen kann, wie Integration aussieht, sogar ob es überhaupt möglich ist, Muslime zu integrieren – wird diskutiert. Aber können Sie uns zunächst einmal erklären, was das überhaupt ist (gelungene) Integration?

Klaus J. Bade: Integration ist die messbare Teilhabe an den zentralen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, von frühkindlicher Erziehung, Bildung und Ausbildung, über die Teilhabe am Arbeitsmarkt, an den schützenden Rechts- und Sozialsystemen und bis zur politischen Teilhabe, Integrationsförderung ist Teilhabeförderung.

Deutschland hat ja schon mehrere Einwanderungswellen erlebt: nach dem 2. Weltkrieg, in den 1960ern mit den sogenannten Gastarbeitern oder in den 1990ern mit den Kriegsopfern vom Balkan. Ihre Bilanz: Hat die Politik da ihren Teil erfüllt, damit die Menschen hier ausreichend integriert werden?

Jein, mit Steigerung ins Negative: die Integration von Flüchtlingen und Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg war eine staatlich intensiv geförderte und insgesamt erfolgreiche Integrationsgeschichte. Die Integration der ‚Gastarbeiter’ war eine lange staatlich erschwerte (‚kein Einwanderungsland’) Einwanderungsgeschichte. Bei Flüchtlingen aus Ex-Jugoslawien ging es meist weniger um Integration als um befristete Aufnahme und dann um geförderte ‚Rückführung’ (Roma / Kosovo).

Wir brauchen eine grundlegende Reform des europäischen Asylrechts

Im letzten Jahr haben über eine Million Menschen ihre Heimat verlassen und in Deutschland Schutz gesucht. Was sind Ihres Erachtens nach jetzt konkrete politische Maßnahmen, die getroffen werden müssen, um aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen und eine gelingende Integration möglich zu machen?

Eine grundlegende Reform des europäischen Asylrechts mit der Abschaffung des Dublin-Systems, Verteilungsquoten und vergleichbaren Standards, Abbau von Vorurteilen gegenüber den Geflüchteten und ihre soziale Gleichstellung mit anderen Einwanderern.

Sehen Sie, dass das passiert und wenn nicht, woran liegt das?

Deutschland hat Vorschläge zu einer europäischen Asylrechtsreform lange blockiert. Der Kurswechsel unter selbst mitverursachtem Migrationsdruck (‚Wir schaffen das’) ist deshalb auch ein Problem der Glaubwürdigkeit. Vorurteile sind politisch mehr geschürt als abgebaut worden (‚Asylbetrüger’, ‚Wirtschafts- und Armutsflüchtlinge’, ‚Einwanderung in die Sozialsysteme’ u.a.m.)

Staatsversagen und Katastropheninszenierung: Die sogenannte Flüchtlingskrise in Deutschland ist auch hausgemacht

Es gibt noch so ein anders Wort, das plötzlich in aller Munde ist. Das Wort Flüchtlingskrise. Haben wir in Deutschland denn eine (Flüchtlings-) Krise?

Die sogenannte Flüchtlingskrise ist 

  1. eine Weltkrise, die Flüchtlinge (zum geringeren Teil) auch vor die Tore der Festung Europa treibt;
  2. eine Krise der Flüchtenden selbst – von den Bedrohungen in den Ausgangsräumen über die oft lebensgefährliche Flucht bis zu der quälend langen Ungewissheit über die Bleibechancen in Deutschland; 
  3. eine Krise der EU und
  4. eine – durch Staatsversagen und mediale Katastropheninszenierung auch hausgemachte – Krise in Deutschland.

Im Zuge dieser sogenannten Flüchtlingskrise äußern viele Menschen in Deutschland vermehrt Ängste. Es gibt Ängste vor Arbeitsplatzverlust, davor, dass dann nicht mehr genug Sozialleistungen für alle da sind oder vor Kriminalität. Sind das berechtigte Ängste?

Individuelle Sozialangst ist immer verständlich und berechtigt. Aber Deutschland braucht Einwanderung zu einer Abfederung der Folgen des demographischen Wandels für Arbeitsmarkt und Sozialsysteme. Das funktioniert nur bei sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung. Das ist bei Flüchtlingen, die ja ohne Rücksicht auf ihre formelle und berufliche Qualifikation aufzunehmen sind, ein langer und sozial teurer (Transferbezüge) Prozess. Dabei kann es bei gering Qualifizierten und bei der wohnräumlichen Versorgung von sozial Schwachen zu einer Verdrängungskonkurrenz kommen, bei der Sozialängste dann auch objektiv berechtigt sind. Die Kriminalität von Flüchtlingen wird völlig überschätzt.

Fehlentscheidungen, Panikreaktionen, mangelnde Sensibilität: Politik hat Ängste befördert

Wie könnten Politik und Zivilgesellschaft diesen Ängsten begegnen? Könnte sich Deutschland da etwas aus anderen Ländern abgucken?

Das deutsche Aufnahme- und Integrationssystem ist in vieler Hinsicht mustergültig. Es gibt sowieso keine kompletten Schnittmuster zum Lernen von anderen Ländern, sondern nur Lernchancen (auch von Deutschland) in einzelnen Bereichen. Zivilgesellschaftlich braucht Deutschland ohnehin nichts zu lernen: Die Willkommensbewegung von unten war (im Gegensatz zu der aufgesetzten ‚Willkommenskultur’ von oben) ein weltweites Aufsehen erregendes bürgergesellschaftliches Engagement, eine pragmatische Bewegung für Hilfe und Schutz der Flüchtlinge im Alltag sowie zum Abbau der Angst vor ihnen. Aber Politik, besonders im BMI, hat diese Ängste sogar befördert durch Fehlentscheidungen (z.B. Personalabbau bei den Asylentscheidern), falsche Dramaturgie (z.B. Verschweigen oder verspätete Meldung der Zuwanderungszahlen, Überforderungssignale, Panikreaktionen) und absolut mangelnde Sensibilität in Fragen der Gesellschaftspolitik.

Zum Schluss noch so ein Wort, Herr Bade. Wirtschaftsflüchtlinge vs. Kriegsflüchtlinge. Macht es für Sie überhaupt Sinn, die Menschen, die kommen in diese Kategorie einzuteilen? Was würden Sie vorschlagen?

Asylsuchende sind nicht nur als Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge, sondern auch aus anderen Gründen schutzwürdig. ‚Wirtschaftsflüchtling’ könnte eine positive Bewertung sein, denn Flucht aus existenzbedrohenden wirtschaftlichen und sozialen Gründen ist genauso legitim wie Flucht aus politischen Gründen, auch wenn das nicht ins deutsche Asylrecht passt. Der negative Begriff ‚Wirtschaftsflüchtling’ hatte seinen Grund in zu wenig legalen Zuwanderungsmöglichkeiten aus wirtschaftlichen und sozialen Gründen. Viele wählten ersatzweise das Nadelöhr des Asylsystems. Wenn sie dabei als wesentlich wirtschaftlich oder sozial motiviert erschienen, galten sie als ‚Wirtschaftsflüchtlinge’ im Sinne von ‚Asylbetrügern’. Wir haben diese negative Konnotation also selber produziert.

Herr Bade, wir danken Ihnen herzlich für Ihre Zeit.

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Wir finden: Der Migrationsexperte hat Recht.

Wir brauchen eine Reform des EU-Asylrechts und eine Politik, die sich Vorurteilen und Rechtspopulisten klar entgegenstellt anstatt sich wegzuducken. Auch deshalb bildeten am 18./19. Juni 40.000 Menschenketten in ganz Deutschland. Hand in Hand stehen wir ein gegen Rassismus, für Menschenrechte und Vielfalt.

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Zur Person

Porträt von Prof. Dr. Klaus J. Bade, Migrationsexperte.

Prof. Dr. Klaus J. Bade ist einer der renommiertesten deutschen Migrationsforscher. Er ist Mitbegründer des Institutes für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) in Osnabrück, das er bis zu seiner Eremitierung 2007 leitete. Von 2008 bis 2012 war er Vorsitzender des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR).  Heute ist Bade hauptsächlich in der Politikberatung und als Migrationsexperte tätig. Er veröffentlichte zahlreiche kritische Publikationen zur zeitgenössischen Migrationsdebatte – u.a. äußerte er sich kritisch  in der sogenannten „Sarrazin-Debatte“.

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Autor*innen

Schon als Kind lief Anna-Lena im Ruhrgebiet auf Ostermärschen mit. Mit 18 berichtete sie für einen Lokalsender vom Weltumweltgipfel in Südafrika. Sie studierte Lateinamerikanistik, Politik und Publizistik in Berlin, Spanien und Argentinien, lernte 4 Sprachen und engagierte sich in der Hochschulpolitik. Sie wurde Fernsehjournalistin, berichtete bei RTL und dem NDR über Atomenergie,prekäre Arbeitsbedingungen und Thilo Sarrazin. In Mali arbeitete sie als Consultant für die GIZ - in Berlin engagiert sie sich ehrenamtlich in einer Flüchtlingsunterkunft. Seit Oktober 2015 ist sie Campaignerin bei Campact. Alle Beiträge

1 Kommentare

Kommentare sind geschlossen
  1. Sehr guter Artikel, danke für die Hintergrund Infos zu diesem Thema. Ich bin selber ehrenamtlich engagiert in der Flüchtlingshilfe in meiner Stadt in Österreich und brauche in Diskussionen oft Argumente um mein Tun, meinen Einsatz für die Schutzsuchenden zu erklären, zu rechtfertigen. Immer kommt, ob wir uns „das“ leisten können, alles wird zusammen brechen, das sozialsystem zu stark beansprucht, betrug am der arbeitenden Bevölkerung, die bekommen was und haben noch nie was einbezahlt…. Usw. Und Ich kanns schon nicht mehr hören. Grossen Anteil daran haben meiner Meinung nach unsachgemäße Berichterstattung, halbwahrheiten, marktschreierische populistische Tageszeitungen, die der Fpö zuarbeiten und leider auch mit meinem Steuergeld subventioniert werden.
    Die Politik soll endlich mit dieser Panikmache und dem Schüren von Ängsten aufhören und konkrete Arbeit leisten und ganz besonders auf europäischer Ebene menschenwürdige Lösungen anstreben.

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