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Wahlrecht: Not my Bundestag

Unser Wahlrecht sorgt dafür, dass viele Stimmen verloren sind. Weil sie an Parteien gehen, die unter der 5-Prozent-Hürde bleiben. Das ist problematisch - und veränderbar.

Bei der Auszählung der Briefwahlstimmen im Briefwahlzentrum Köln
Auszählung von Briefwahlstimmen in Köln. Quelle: IMAGO

Es ist entscheidend, wie wir uns entscheiden. Intuitiv wird das klar, wenn wir an unsere Berufswahl oder die Wahl unseres Wohnorts denken. Wie und wofür wir uns entscheiden, beeinflusst unmittelbar unser zukünftiges Leben. Und zwar langfristig, nachhaltig und fundamental. Je größer die Fragen werden, desto einschneidender. Eigentlich logisch. Die größte Entscheidung über unsere politische Zukunft treffen wir als Gesellschaft alle vier Jahre: bei der Bundestagswahl. Wir wählen aus, wer für uns über unsere aller Zukunft entscheiden soll. Einen größeren kollektiven Entscheidungsprozess gibt es nicht!

Deswegen ist es so wichtig, dass wir uns als Gesellschaft überlegen, nach welchen Regeln wir die Menschen auswählen, die für uns die Zukunft gestalten sollen. Wahlrecht und Wahlgesetze kommen so unscheinbar daher, sind aber die wirkungsvollsten demokratischen Einstellungsmöglichkeiten unserer Gesellschaft.

Als meine Großmutter 1957 die SPD wählte, verhalf sie der Partei zu einem Ergebnis von 31,8 %. Die SPD verlor, ganz zum Bedauern meiner Oma, die Wahl und die Union stellte den Bundeskanzler mit 50,2 %. Bei der Bundestagswahl im Jahr 1972 holte die SPD satte 45,8 % (zum Vergleich bei der Bundestagswahl am 26. September 2021: 25,7), die Union verlor die Wahl – nicht wie 2021 mit 24,1 %, sondern mit 44,9 %. Die Zeit der “großen Zwei”, die beide den großen Teil der Wähler*innenstimmen auf sich vereint haben, ist längst passé.

Wahlrecht führt zu fehlerhafter Abbildung

Unser Wahlverhalten hat sich verändert. Wir schreiben das Jahr 2022 und zählen sechs Parteien im Bundestag: Die zunehmende Ausdifferenzierungs- und Individualisierungstendenzen unserer Gesellschaft machen keinen Halt vor der Parteienlandschaft. Man kann sagen, eine heterogene Gesellschaft wählt natürlich auch heterogener. Aber auf diese Entwicklung sind unsere Demokratie-Einstellungen, unser Wahlrecht, noch nicht angepasst. Die Regeln, die in der Adenauer-Ära richtig waren und das Ziel hatten, die noch junge Demokratie zu stabilisieren, führen im Jahr 2022 zu Abbildungsfehlern im Parlament. Die Politikwissenschaft nennt das dann Repräsentationslücken: Wahlergebnis und die tatsächliche Besetzung des Parlaments stimmen immer weniger überein. Jetzt könnte man dem Wahlsystem einfach ein Update verpassen, damit die Rechnungen wieder aufgehen. Aus der Wissenschaft und der Zivilgesellschaft liegen viele Vorschläge auf dem Tisch, wie das gehen kann. Aber so einfach ist das natürlich nicht.

Unser Autor Anselm Renn arbeitet in Berlin für Mehr Demokratie e.V.

Medial wird vor allem der immer größere Bundestag und die daraus folgenden Kosten angeprangert. Aber: Nur unser Parlament kann das Wahlrecht ändern – und im Bundestag sitzen Menschen, die dann selbst Gefahr laufen, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Menschlich vollkommen verständlich, dass sie da nicht ran wollen – aus der Perspektive der Demokratie aber eine Katastrophe. Viele Parteien, allen voran die CSU, profitieren nämlich stark vom Status quo. Auch wenn jede*r Politiker*in zugibt, dass die Rechnung schon lange nicht mehr stimmt. Aber der wachsende Bundestag ist nur ein Symptom eines aus der Zeit gefallenen Wahlrechts.

Zwei Ideen für neues Wahlrecht

Außerdem wählen immer mehr Menschen immer mehr kleine Parteien. Dadurch bleiben selbst die größeren Parteien mancherorts an der 5-Prozent-Hürde hängen. Momentan sind alle Stimmen für Parteien, die bei den Wahlen keine 5 % erreichen, verloren. Das System, das jahrzehntelang zuverlässig politische Stabilität produziert hat, scheitert an der Gegenwart. Dass bei einer Wahl bis zu 20 % der Stimmen nicht gewertet werden, ist formal korrekt, aber aus der Perspektive der Demokratie zum Heulen.

Verlorene Stimmen bei Wahlen durch die 5-Prozent-Hürde
Tabelle der verlorenen Stimmen / Quelle: Universität Bonn

Dabei gibt es Lösungen. Wir könnten etwa eine Ersatzstimme einführen: Menschen sollen neben ihrer Wunschpartei noch eine zweite Präferenz angeben – wenn ihre erste Wahl an der 5-Prozent-Hürde scheitern sollte, kommt ihre Ersatzstimme zum Zug. Und zack – viel weniger Stimmen würden unter den Tisch fallen. Menschen würden nicht mehr zum systemgewollten taktischen Wählen angehalten werden. Oder man senkt die 5-Prozent-Hürde auf zwei oder drei Prozent, auch wenn das zunächst bei jedem geschichtsbewussten Deutschen schaurige Assoziationen an die Weimarer Republik aktivieren wird. Eine verständliche Reaktion – aber ist sie noch zeitgemäß? Wir sind mittlerweile als Demokratie erwachsen geworden! Wir könnten mit mehr und kleineren Parteien in Parlamenten umgehen. Die deutsche Stabilität-um-jeden-Preis-Maxime braucht es nicht, wenn wir unsere Demokratie stetig weiterentwickeln – wir sind doch bereits jetzt: stabil!

Wahlrecht breit diskutieren

Wie auch immer man zur 5-Prozent-Hürde stehen mag: Schon jetzt kann das Regierungshandeln nicht mehr, wie in den politischen Zeiten meiner Großmutter, allumfassend von einer Partei bestimmt werden. Der Druck steigt, das neue Normal des Wähler*innenwillens anzuerkennen und daraus innovative Schlüsse zu ziehen. Eine Lösung könnten Mehrparteien-Bündnisse und Minderheitsregierungen sein. “Stabile Mehrheiten” könnten von “flexiblen Mehrheiten” abgelöst werden. Zusammen mit neuen Kooperations- und Kommunikationsstrategien und einem zunehmenden Wandel der innerparteilichen politischen Kultur, könnte so die Zukunft des Regierens aussehen.

Doch ganz egal, ob man mit größeren Wahlkreisen den Bundestag verkleinert, eine Ersatzstimme einführt oder eine ganz andere Idee zum Tuning unseres Parlaments hat: Wir müssen uns dringend darum bemühen, über komplexere, heterogene Parlamente ein viel stimmigeres Abbild unsere Gesellschaft zu schaffen. Die Politikzufriedenheit würde steigen. Man könnte sich wieder mehr mit unseren Politiker*innen identifizieren. Und dem Parlament mehr Achtung entgegenbringen. Deswegen: Zieht das Wahlrecht mit in die Öffentlichkeit und lasst es uns breit diskutieren. Denn es hängt die ganze Zukunft, die wir vor uns haben, davon ab.


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Autor*innen

Anselm Renn ist Kommunikations- und Politikwissenschaftler. Er ist Bundesvorstand von Mehr Demokratie e.V. und setzt sich seit Jahren als Pressesprecher und Campaigner für stärkeren Bürger:inneneinfluss in der Politik auf allen Ebenen ein. Im Campact-Blog schreibt er zu den Themen Direkte Demokratie und Volksentscheide. Alle Beiträge

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