Digitalisierung Umwelt
„World Wide Waste“: 90 Prozent Abfall
"World Wide Waste" ist ein Sachbuch mit klarer Agenda: Wir müssen endlich verstehen, dass im Internet nichts kostenlos ist. Jeder Klick wird von unserer Umwelt bezahlt und von den Menschen, die schon immer unseren Wohlstand erarbeiten mussten. Eine Leseempfehlung von Friedemann Ebelt.
Lausiges Wetter steigert die Leselaune. Gut, wenn die auf ein Sachbuch zu Digitalisierung und Ökologie trifft, das eine umfassende Kritik unserer Digitalkultur abgibt – und gleichzeitig aufzeigt, wie viel wir für uns und den Planeten gewinnen können, wenn wir diese Kultur in Zukunft besser gestalten. „World Wide Waste“ (Lulu Press, 2020) von Autor und Digitalisierungs-Aufräumer Gerry McGovern (auf Mastodon) ist eine augenöffnende Lesereise durch die Kehrseite unserer schönen glitzernden Datenwelt. Die Irish Times bezeichnete Gerry McGovern als einen von fünf Visionären, die einen großen Einfluss auf die Entwicklung des Internets hatten. (Bitte nicht verwechseln mit dem britischen Edelkarossen-Designer Gerard Gabriel McGovern, dessen Technikphilosophie ziemlich gegensätzlich aussehen dürfte. Er macht nur, dass SUV aussehen, wie sie aussehen.)
„World Wide Waste“ verfolgt die Spuren unseres zerstörerischen Überkonsums
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Während Gerry McGovern die Netzwerke von Unternehmen neu strukturierte, um ihren Gebrauchswert zu steigern, in dem er sie von unnötigem digitalen Ballast befreite, begann er sich zu fragen, ob wir zu viel digitale „’geplante Obsoleszenz‘-Innovation treiben und nicht genug soziale und organisatorische Innovation. War die Digitalisierung zu einer Kreatur geworden, die darauf trainiert ist, sich selbst zu fressen, zu verschwenden und sich so schnell wie möglich zu ersetzen, um das kurzfristige Wachstum zu maximieren?“ (eigene Übersetzung des englischen Originals). McGovern verfolgt in „World Wide Waste“ die Spuren unseres zerstörerischen Überkonsums von Geräten und nutzlosen Daten und zeigt uns die dreckige Welt der Digitalisierung mit beeindruckend vielen Beispielen, Vergleichen und Zahlen.
90 Prozent der digitalen Daten sind Abfall
Wobei er der Unentschlossenheit der Für-und-Wider-Debatte von Digitalisierung und Umwelt entschlossene Sätze entgegenstellt, Sätze wie „Die Digitalisierung ist ein Beschleuniger und ein Konzentrierer. Im Moment beschleunigt sie schlechtes Verhalten und Reichtum“ oder „90 % der digitalen Daten sind Abfall“.
Zu undifferenziert, könnte eingeworfen werden, aber McGovern geht es um das große Ganze. Besonders dem Management und Unternehmertum diagnostiziert McGovern eine dysfunktionale Kultur im Umgang mit Digitalisierung und rät: „Löschen Sie mindestens 80 %. Im Moment zerstören unnütze Daten die organisatorische Effizienz. Wir müssen den Müll beseitigen, und das beginnt damit, dass wir neue Wege des gemeinsamen Arbeitens einschlagen.“
Rund 90 % der Daten werden laut Tech Target drei Monate nach ihrer ersten Speicherung nicht mehr abgerufen. 80 % aller digitalen Daten werden laut einem Bericht der Active Archive Alliance aus dem Jahr 2018 nach der Speicherung nie wieder aufgerufen oder verwendet. Laut dem Suchtechnologiespezialisten Lucidworks analysieren Unternehmen in der Regel nur etwa 10 % der von ihnen gesammelten Daten. Laut IDC werden 90 % der unstrukturierten Daten nie analysiert. Laut IBM werden 90 % aller Sensordaten, die von Geräten des Internets der Dinge gesammelt werden, nie genutzt.
»World Wide Waste« von Gerry McGovern, S. 28
Eine Sucht nach Müll
Die Müllspuren, die Digitalisierung hinterlässt, vergleicht McGovern mit den Ozeanen, in denen schon bald mehr Tonnen Plastik schwimmen als Fische. Die Online-Werbeindustrie bezeichnet er als Ölindustrie des Webs: ein Motor, der viel schlechte Luft produziert und Müllberge verursacht. Jeder dieser Vergleiche hat Stärken und Schwächen. Klar, Vergleiche machen ihre Aussage, in dem sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufzeigen. Erschreckend weit führen die Parallelen zwischen der Zucker-Industrie und digitalen Angeboten: „Wie bei Facebook ist das Geschäftsmodell des Zuckers die Sucht, die unser tiefstes und ältestes Verlangen schürt.“
McGovern spannt die ganz großen Bögen über die koloniale Ausbeutung durch die Zucker-Industrie, die monopolistische Konzernmacht und den enormen Lobbyeinfluss, mit dem die Industrie die negativen Auswirkungen auf die Gesundheit versucht zu verdecken. „Bevor es Big Data gab, gab es Big Sugar“ und dazu wird frei assoziiert: „Wenn wir das Web als ein lebendiges System betrachten, könnten wir sagen, dass es fettleibig ist. (…)“ „Wenn das Web ein Verdauungssystem wäre, könnte es nicht kacken“. Wie bekomme ich dieses Bild jemals aus meinem Kopf? Die Botschaft kommt aber an: Digitalisierung versetzt uns, wie Zucker, in einen ungesunden Rausch, in einen kurzfristigen Höhenflug, dessen Kosten für uns und den Planeten wir nicht wahrhaben wollen.
Überkonsum von Elektroschrott
„Ab 2019 werden jährlich 50 Millionen Tonnen Elektroschrott produziert (…) Es wird geschätzt, dass wir bis 2050 jährlich 120 Millionen Tonnen Elektroschrott produzieren werden.“ Gruselig ist, wie nah sich in der Digitalisierung das neue High-End-Produkt und der Elektroschrott von morgen sind. Dazwischen liegen oft nur wenige Jahre. „Schnelligkeit und Billigkeit – was für eine starke, berauschende Kombination, die die Digitalisierung bietet.“ Gegen das Prinzip von overconsumption, dem Überkonsum von Daten und von Hardware, gibt es eine Lösungsstrategie, für die McGovern wirbt. Ablenkung hilft da nicht: Es ist wichtig, dass an effizienteren Geräten gearbeitet wird und dass moderne Rechenzentren möglichst wenig Energie verbrauchen, aber den strukturellen und wachsenden Energie- und Rohstoffhunger der Digitalisierung wird das nicht stillen.
„World Wide Waste“ ist ein Appell, bei jedem Klick, bei jeder Suchanfrage, bei jedem Streaming, bei jedem Kauf von Geräten und bei jeder geschriebenen Zeile Programmcode daran zu denken, dass jede digitale Handlung ein ökologisches Gewicht hat, das der Planet tragen muss. Dieses Gewicht, diese Kosten sind versteckt – wir müssen sie sichtbar machen.
Ist Verschwendung die Kultur der Digitalisierung?
Ich wünsche, dass McGovern falsch liegt, wenn er schreibt: „Das Herzstück der Digitalisierung ist eine Kultur und Mentalität der Verschwendung (…) Wir verstehen nicht ‚genug‘ Leistung, wir verstehen nur ‚mehr‘ Leistung.“ Wir wollen immer leistungsfähigere Smartphones, hochauflösendere Bildschirme und stärke Prozessoren. Welche Art von Kultur betreiben wir damit?
Kultur ist, so lautet eine von unzählbar vielen Definitionen des Begriffs, vereinfacht das, was Menschen von Tieren unterscheidet. Also zum Beispiel die Verwendung von Werkzeugen oder Sprache. Die Grundlage für Bürokratie, die Herrschaft der Verwaltung, ist die Schrift. Text war auch der erste Inhalt der ersten Website der Welt. Sinn und Zweck des ganzen war der Austausch von Informationen. Heute sieht das anders aus. „Cisco schätzt, dass bis 2019 fast 80 % des Internetverkehrs aus Videos bestehen wird“, schreibt McGovern und erklärt: „Videos verursachen wesentlich mehr Umweltverschmutzung als Text. Text ist die ultimative Kompressionstechnik. Er ist bei weitem die umweltfreundlichste Art zu kommunizieren. Wenn Sie den Planeten retten wollen, verwenden Sie mehr Text.“
Das fällt uns schwer, denn unsere Kultur ist auch eine Kultur der Bilder. Der Wissenschaftler Rabih Bashroush hat Ende 2020 ausgerechnet, scheibt McGovern, dass das Streaming des Musikvideos zu „Despacito“ so viel Strom verbrauchte wie Tschad, Guinea-Bissau, Somalia, Sierra Leone und die Zentralafrikanische Republik in einem Jahr. Ich weiß leider nicht mehr wer, aber eine Journalistin oder ein Journalist hat mal gesagt: Was YouTuber:innen in 15 Minuten erklären, schreibe ich in fünf Sätzen auf – oder so ähnlich. Wenn das Medium des Internets nicht Text, sondern ressourcenintensives Video ist, welcher Herrschaftsform unterliegen wir dann, wenn wir online sind?
Digitaler Wandel – eine Kulturaufgabe
„World Wide Waste“ ist ein positives und optimistisches Buch. McGovern geht hart ins Gericht mit Wirtschaft, Technik-Community und uns Internet-Nutzenden, weil er weiß, dass Digitalisierung eine wunderbare Sache ist, die wir nicht vermasseln dürfen – genau wie unser Planet. McGovern sagt, dass wir unsere Geräte so programmieren, wie wir programmiert sind, wenn er schreibt: „Wir sind darauf programmiert, mehr zu wollen, so viel wie möglich zu ergattern, weil wir das seit Millionen von Jahren zum Überleben brauchen. Das, was uns stark macht, kann uns am Ende umbringen.“ Wir müssen also erst uns umprogrammieren. Ganz besonders diejenigen von uns, die Digitalisierung gestalten, damit wir planetenverträgliche digitale Lösungen schaffen können. Eine Technik – vor allem aber eine Kulturaufgabe!