Ostdeutschland Soziales
„Es gibt eine ostdeutsche Identität, für die es kein westdeutsches Pendant gibt“
Anfang November 2023 veröffentlichte die Otto-Brenner-Stiftung die Studie "Auf der Suche nach Halt – Die Nachwendegeneration in Krisenzeiten". Simon Storks, Seniorberater bei pollytix, hat die Studie durchgeführt. Im Interview erklärt uns Simon die wichtigsten Erkenntnisse und was wir für die Wahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen lernen können.
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Das Interview mit Simon Storks zur Studie „Nachwendegeneration in Krisenzeiten“
Lieber Simon, vielen Dank, dass Du auf dem Campact-Blog eure Ergebnisse teilen willst. Steigen wir direkt ein: Worum geht’s bei der Studie und warum habt ihr die gemacht?
Wenn wir mal zurückblicken: In den letzten Jahren haben wir eine Art Dauerzustand der Krise erlebt. Die Pandemie und Russlands Angriffskrieg haben unser Sicherheitsgefühl erschüttert und nachhaltig verändert. Inflation und Energiekrise haben uns herausgefordert. Und der Blick nach vorn: Die Klimakrise steht uns so richtig ja erst noch bevor! Was wir in vielen Studien während dieser skizzierten Krisenjahre beobachten mussten, ist eine Erosion des politischen Vertrauens und der Demokratiezufriedenheit. Dabei sehen wir auch deutliche Ost-West-Unterschiede: Das Vertrauen in Ostdeutschland ist nochmals geringer, Unmut noch lauter, Frust noch größer.
Und hinzukommt: Das betrifft auch die junge Generation. Während im Jahr vor der Pandemie, 2019, noch drei von vier Jugendlichen zwischen 16 und 23 Jahren angaben, mit dem Funktionieren der Demokratie in Deutschland zufrieden zu sein, war es 2022 schon nicht einmal mehr die Hälfte. Wir sehen in unseren Studien, dass die Mehrheit dieser Generation sich von der Politik vernachlässigt fühlt. In Zeiten, wo Demokratie unter Druck steht, ein riesiges Problem! Daher haben wir uns auf die Krisenresilienz der jungen Generation fokussiert, um zu verstehen, ob und wie sich die Nachwendegeneration in Ost und West hier unterscheiden.
Danny Schmidt schreibt im Campact-Blog für, über und aus Ostdeutschland. Lies hier alle seine Beiträge.
Wie geht es denn den ostdeutschen Nachwendekindern – also meiner Generation?
Leider nicht besonders gut, muss man sagen. Die Nachwendegeneration insgesamt, also nicht nur in Ostdeutschland, ist sichtlich krisenmüde und überfordert von den Anpassungsleistungen, die ihnen die letzten Jahre abverlangt haben.
Die jungen Menschen, mit denen wir diskutiert haben, stehen vor vielen Herausforderungen: je nach Alter die Suche nach Ausbildungs- oder Studienplätzen, die Finanzierung der eigenen Bildung und für die Älteren der Nachwendegeneration auch Familiengründung, beruflicher Aufstieg oder der Wunsch nach einem Eigenheim. Diese Ziele und Herausforderungen führen bei ihnen zu einem spürbar starken Druck, zu einem Gefühl, ständig leisten zu müssen. Auch zeugen sie in gewisser Hinsicht von einem Suchen nach Stabilität in Zeiten von Unsicherheit, in gewisser Weise auch eine Flucht in traditionelle Lebensentwürfe.
Und dieser Leistungsdruck, wenn wir wieder an die Krisenjahre denken, trifft aktuell zusätzlich auf starke finanzielle und in einzelnen Fällen auch existenzielle Sorgen: Wohnraum ist knapp, Mietkosten steigen, Energie-, Sprit- und Lebensmittelpreise sind stark gestiegen. Für viele der jüngeren Nachwendegeneration ist so schon der Start ins eigene Leben – also außerhalb des eigenen Elternhauses –zunehmend schwierig. Sie wissen halt nicht, wie sie die Miete bzw. Ratenzahlungen und alltägliche Kosten stemmen sollen. Vor allem die ältere Nachwendegeneration thematisiert hier auch die Problematik, angesichts steigender Zinsen ein Eigenheim zu finanzieren, und die schwierigen Bedingungen, bei finanzieller Belastung dann auch noch eine eigene Familie zu gründen.
Gibt es denn auch Unterschiede zwischen den Nachwendegenerationen Ost und West?
Also anders als bei der Perspektive auf das eigene Leben und die Gesellschaft: Der Blick auf Wende, Nachwendezeit sowie Ost und West heute unterscheidet sich dann doch nach wie vor zwischen ostdeutscher und westdeutscher Nachwendegeneration. Halt je nach persönlicher Nähe zur Thematik und persönlichen Berührungspunkten mit ostdeutscher Geschichte. Für die meisten Westdeutschen spielt es – wenig überraschend – keine große Rolle. Es war durch ihre Eltern fast nie Thema, weil deren alltägliches Leben nach 89/90 im Großen und Ganzen ja weiterging wie zuvor. Sie kennen es daher in erster Linie aus dem schulischen Kontext. Für Ostdeutsche hingegen war das deutlich präsenter und wichtiger – durch Eltern und Umfeld, aber auch im eigenen Alltag bis heute. Wobei das Spektrum hier von der bewussten Identifikation mit Ostdeutschland bis hin zur Abgrenzung und zum Genervt-Sein von eben dieser Identifikation anderer Ostdeutscher mit Ostdeutschland reicht.
In erster Linie werden aber von der Nachwendegeneration bis heute fortbestehende objektive Ungleichheiten kritisiert, vor allem eben von der ostdeutschen Nachwendegeneration.
Den Westdeutschen war das weniger präsent, aber auch nicht neu. Spannenderweise ging es in unserer Diskussion den meisten Teilnehmer:innen, auch den ostdeutschen, dabei dann weniger um ostdeutsche Repräsentation oder Identität, als um finanzielle und wirtschaftliche Ungleichheiten. Eine Verbindung von beidem wurde von ihnen nicht hergestellt. Und schon die Frage, wer in ihrer und vor allem in kommenden Generationen noch als ost- oder westdeutsch gelten soll, wird aus ihrer Sicht kaum noch klar zu beantworten sein. Ost- und West-Identität oder unterschiedliche Sozialisation, so mehrheitlich der Tenor, das „wachse sich raus“. Die Herstellung gleichwertiger Lebens- und Arbeitsverhältnisse hingegen: Das richtet nicht die Zeit allein.
2018 habt ihr zum ersten Mal die Nachwendegeneration untersucht. Welche Unterscheide fallen dir im Vergleich zu heute auf?
Für uns am auffälligsten: Ihr Optimismus ist quasi erloschen. Das kann man durchaus so drastisch sagen. Wir haben uns schon 2018 in Tiefeninterviews bei der Nachwendegeneration wortwörtlich zuhause auf die Couch gesetzt und diese qualitativen Forschungsergebnisse anschließend in einer repräsentativen Befragung validiert und quantifiziert. Was damals ost- und westdeutsche Nachwendekinder einte – trotz unterschiedlicher Perspektive auf Vergangenheit und Identität, trotz struktureller und wirtschaftlicher Ungleichheiten – war ein geteilter, optimistischer Blick in die eigene Zukunft. Den finden wir so nicht mehr. Das ist für mich die gravierendste und deutlichste Veränderung.
Wenn wir nach vorne schauen: Es stehen große politische Weichenstellungen bevor. Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen, Europawahl, diverse Kommunalwahlen. Was können wir aus eurer Untersuchung mit Blick auf die Wahlen lernen?
Politik muss dringend die eigene Problemlösungsfähigkeit unter Beweis stellen. Die Perspektiven und Bedürfnisse der Nachwendegeneration müssen dabei ernster genommen und ihnen eine Stimme verliehen werden. Hier komme ich nochmal auf den verlorengegangenen Optimismus zurück. Dass junge Bürger:innen, die faktisch mehr Lebenszeit vor sich haben als alle älteren Generationen, das eigentlich paradoxe Gefühl haben, weniger Zukunft zu haben, ist ein echtes Problem – für die genannten Wahlen, aber auch darüber hinaus.
Wir beobachten hier einen Rückzug ins Private. Auf der Suche nach Stabilität und Sicherheit wird auch von jungen Menschen mitunter ein Bild von der Vergangenheit romantisiert, statt Zukunft zu gestalten. Selbst die Idee vom Auswandern wird von einigen Teilnehmer:innen als gedanklicher Fluchtpunkt genutzt, um das Versprechen, dass eigene kleine Glück noch finden zu können, aufrechtzuerhalten. Die Herausforderungen der Zukunft – demografischer Wandel, Digitalisierung, Klimawandel, der Schutz von Demokratie und Frieden – aber sind so groß, dass sie nicht durch eine Gesellschaft von Einzelkämpfer:innen im Privaten zu meistern sind.
Zu guter Letzt: Für dich persönlich gesprochen, welchen Befund eurer Studie fandest du am spannendsten oder hat dich am meisten überrascht?
Spannend, wenn auch erwartbar, fand ich das unterschiedliche Bewusstsein für die eigene ost- bzw. westdeutsche Herkunft. In den ostdeutschen Gruppendiskussionen haben die Teilnehmer:innen schon in der Vorstellungsrunde gecheckt, dass sie alle aus Ostdeutschland sind. Den Westdeutschen ist es erst aufgefallen, nachdem wir sie darauf hingewiesen haben. Auch wenn die meisten Teilnehmer:innen von sich behaupten, Ost und West sei keine wichtige Kategorie für ihre Identität oder ihr Selbstverständnis, zeigt das ja, dass es dennoch weiterhin prägt. Es gibt eine ostdeutsche Identität, für die es kein westdeutsches Pendant gibt, weil westdeutsch auch heute noch als Norm gesehen wird.
Der zweite Punkt, den ich sehr spannend fand, war die Bewertung von Ungleichheiten zwischen Ost und West. Zum einen, dass den Teilnehmer:innen Unterschiede bei Löhnen und Gehältern zwar sehr präsent waren, in der Diskussion sie das Ausmaß der Unterschiede bei Vermögen dann aber überraschte. Und zum anderen, wie viel wichtiger ihnen diese Ungleichheit im Vergleich zu ungleicher Repräsentation war. In der Analyse ergibt es das natürlich Sinn: Diskussionen um eine Ostquote beispielsweise sind aus Perspektive unser Teilnehmer:innen in erster Linie ein Elitendiskurs. Gefühlt hat es mit ihrem Leben und Alltag wenig zu tun. Ungleiches Gehalt bei gleicher Arbeit, ungleiches Vermögen durch ungleiche Erbschaften, das betrifft sie in ihrem eigenen Alltag aber ganz konkret.
Danke Dir!
Hintergründe zur Person und zur Studie
Simon Storks, 34 Jahre
- Im November 1989 kurz nach dem Mauerfall im Münsterland (NRW) geboren und dort aufgewachsen, fürs Studium dann nach Thüringen und Sachsen gezogen
- 2010-2013 Bachelor in Soziologie und Politikwissenschaft (Friedrich-Schiller-Universität Jena)
- 2013-2017 Master in Soziologie (Universität Leipzig)
- Seit 2017 in Berlin bei pollytix, zunächst als Berater und seit 2020 als Seniorberater
Wer war der Auftraggeber der Studie?
Auftraggeberin beziehungsweise Zuwendungsgeberin war hier die Otto-Brenner-Stiftung. Das ist die Wissenschaftsstiftung der IG Metall, die als Satzungsziele unter anderem die Angleichung der Arbeits- und Lebensbedingungen sowie demokratische Arbeitsbeziehungen in Ost- und Westdeutschland verfolgt. Sie war schon Zuwendungsgeberin für das erstes Forschungsvorhaben zur Nachwendegeneration, durchgeführt 2018, veröffentlicht 2019, und hat nun auch dieses Folgeprojekt ermöglicht.
Wie war das Vorgehen bei der Studie?
Das Vorgehen war zweistufig, qualitativ und explorativ. Es wurden volljährige Ost- und Westdeutsche, die nach 1989 geboren wurden, zunächst zu Gruppendiskussionen eingeladen. Dabei haben wurden vier unterschiedliche, in sich homogene Gruppen mit jeweils sieben Teilnehmenden gebildet: zwei Altersgruppen – einmal 18 bis 24 und einmal 25 bis 34 Jahre – jeweils in Ost und West. Die Teilnehmenden wurden vorab weder über die Gruppenkonstellation noch über das Thema oder die Fragestellung informiert. Es sollten diese unterschiedlichen Gruppen aber nicht nur nebeneinander und übereinander diskutieren lassen, sondern auch miteinander. Daher wurden im Anschluss aus jeder Gruppe zwei Botschafter:innen ausgewählt, die in zwei heterogen zusammengesetzten Workshops noch einmal gemeinsam diskutierten.