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Lesen über den Osten

Es gibt so viele Bücher über die DDR und den Osten. Hier ist meine Auswahl von fünf guten Büchern aus ganz unterschiedlichen Kategorien und mit ganz unterschiedlichen Ansätzen.

Eingang einer Bibliothek in der DDR.
Eingang einer Bibliothek in der DDR. Foto: IMAGO / Dieter Matthes

Geschichte wird immer aus der Perspektive der Sieger erzählt. Mit Blick auf die Geschichte des real existierenden Sozialismus stimmt das vermutlich nochmal stärker. Die Geschichtsbücher sind voll mit der DDR. Doch leider wird diese Geschichte allzu oft von ihrem Ende her erzählt, statt von ihrem Anfang – oder einfach mittendrin. Deswegen gibt es zwar sehr viele, aber eben auch sehr viele schlechte Bücher über die DDR, den Osten oder das Leben dort. Deshalb habe ich eine Auswahl von guten Büchern über den Osten zusammengestellt.  

Danny Schmidt schreibt im Campact-Blog für, über und aus Ostdeutschland. Lies hier alle seine Beiträge.

Palast der Republik – Utopie, Inspiration, Politikum

Diesen großen Band habe ich in der Kunsthalle in Rostock gekauft, als Begleitbuch zur gleichnamigen Ausstellung. Funfact zur Kunsthalle Rostock übrigens: Sie war der einzige Neubau eines Kunstmuseums in der gesamten DDR. Zurück zum Buch: Allein das Cover des Buches – fest, dick, bronzeglänzend wie die Fenster des Palastes – ist so imposant wie die Geschichte, die es erzählt. Die Geschichte des „Palast der Republik“, eines Hauses, das nicht nur Parlament und Sitzungssäle beherbergte, sondern auch Disko, Jugendclub, Bars und Veranstaltungsräume – das kulturelle Zentrum der Hauptstadt.

Dass an seiner Stelle die Berliner City heute um eine revanchistische Feudalarchitektur (gemeint ist das Berliner Schloss) reicher ist, ist kaum zu begreifen, wenn man sich länger mit der imposanten Vielseitigkeit von „Erichs Lampenladen“ befasst hat – so wurde der Palast der Republik von seinen Spöttern genannt. Was man nicht alles nach 1990 daraus hätte machen können! Und Ideen, gerade von Künstler*innen, gab es viele! Wer, wie ich, den Palast nicht mehr miterleben durfte, kann sich hier einen Eindruck verschaffen – und ganz nebenbei Spannendes über Design, Kunst und Kultur im Osten lernen.

Kinder von Hoy von Grit Lemke

Das viel besprochene Buch aus dem Jahr 2021 beschreibt eindrücklich das Leben und Aufwachsen in Hoyerswerda in Sachsen. Die Stadt erlangte bundesweite und internationale Aufmerksamkeit durch die Angriffe von Neonazis auf sogenannte Vertragsarbeiter in der Stadt. Es war das erste Pogrom der Nachkriegszeit. Geschichten hautnah aus dieser Zeit erzählt Lemke in ihrem Buch, oder besser: Sie lässt erzählen. Der Text wirkt besonders nahbar durch diese kurzweiligen Erzählungen aus der Perspektive einer breiten Melange an Kindern aus Hoy, gespickt mit Eindrücken, Erinnerungen und Beschreibungen einer sozialistischen Stadt in den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts. Wer das Leben und Aufwachsen in der sozialistischen und dann post-sozialistischen Gesellschaft hautnah miterleben will, sollte das Buch lesen. Wer keine Ahnung hat, was „Baseballschlägerjahre“ sind, wird auch hier in den brutalen, ehrlichen und nahbaren Berichten fündig.

Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert von Marie-Janine Calic

Nicht über Ostdeutschland, aber über den Realsozialismus erzählt dieses Buch. Jugoslawien hat stetig versucht, irgendwie seinen eigenen Weg zu gehen und sich blockfrei zu positionieren. Das macht es aus meiner Perspektive zu einem der spannendsten ehemaligen sozialistischen Länder. In der Schule habe ich nichts über Jugoslawien gelernt, dabei grenzte es doch über Jahrzehnte direkt an Österreich, eines unserer Nachbarländer. Und nicht zuletzt flogen die ersten deutschen Bomben seit dem Zweiten Weltkrieg auf dieses Land.

Marie-Janine Calic vermag es die Geschichte des Landes, von den ersten Ideen eines gemeinsamen Balkanstaates, bis zu einem kriegerischen Auseinanderbrechen, kurzweilig und mit vielen Leseanreizen zu beschreiben. Sie schafft es, ohne Überheblichkeit und ohne „Siegergeschichte“ über den real existierenden Sozialismus zu schreiben, sondern objektiv, lehrreich und spannend. Besonders zu empfehlen, wenn ohnehin ein Urlaub auf dem Balkan ansteht.

Walter Ulbricht von Ilko-Sascha Kowalczuk

Zugegeben, das Buch habe ich noch nicht durch. Ich habe aber auch erst vor zwei Wochen mit diesem 1006-seitigen Monumentalwerk begonnen – und das ist nur der erste Teil! Vorstellen will ich es trotzdem, aus einem einfachen Grund: Kowalczuk hat die allererste objektive Biografie über Walter Ulbricht geschrieben, die es überhaupt gibt. Die Werke vorher: beschönigt, zensiert, gewogen. Nun: faktenbasiert, objektiv, historisierend. Ich habe noch nie eine Biografie gelesen, irgendwie ist das nicht mein Genre. Doch dieser Band fesselt mich. Ilko-Sascha Kowalczuk ist bei weitem kein Freund von Ulbricht. Im Gegenteil, im Vorwort schreibt er, dass er für ihn Hass empfindet. Und trotzdem schafft er es, die professionelle Distanz zu wahren und ein Werk vorzulegen, das Seinesgleichen sucht.

Mich fesselt besonders die Zeit der Novemberrevolution in Deutschland, die Entwicklung der Arbeiterjugend, in der Ulbricht aktiv war, bis hin zur Gründung der KPD. Kaum auszumalen, wie diese Ereignisse ein Menschenleben prägen müssen. Kowalczuk versucht es uns, vermittelt über Ulbricht, näherzubringen – und schafft es. Jedenfalls bei mir. Eine Sache will ich dazu noch loswerden: Wie viele unzählige Biografien gibt es wohl über Adenauer, Erhard, Kiesinger, Brandt? Dass es über 50 Jahre dauert, dass der andere Staatsmann, der unsere Geschichte ebenfalls so stark geprägt hat, wie die vier Kanzler, auch einer Biografie würdig ist – auch das ist Teil der Geschichtsschreibung der Sieger. 

Baubezogene Kunst DDR von Martin Maleschka

Seit einiger Zeit bin ich ein heimlicher Fan von Martin Maleschka. Der Architekt aus Eisenhüttenstadt hat meine Aufmerksamkeit vor allem mit seiner Fotoreihe über Garagen in Ostdeutschland erhascht. 2019 veröffentlichte er einen Bildband über baubezogene Kunst in der DDR. Wer schon einmal offenen Auges durch die Städte und Dörfer im Osten gegangen ist, entdeckt sie überall. Es handelt sich dabei um Kunst im öffentlichen Raum, jederzeit für alle und jeden kostenfrei verfügbar, besprechbar, anfassbar. Natürlich waren sie nicht nur schmückend an Fassaden, sondern häufig vermittelte Kunst am Bau auch politische Botschaften, sozialistische Utopien oder regionale Volksweisen. Im Bildband porträtiert Maleschka 120 noch heute erhaltene Kunstwerke.

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Autor*innen

Danny Schmidt ist seit 2019 Campaigner bei Campact. Als Teil des Kampagnen-Teams gegen Rechts setzt er sich vor allem gegen das Erstarken rechter Strukturen, Bewegungen und Parteien ein. Als Nachwendekind aus der ostdeutschen Provinz lässt ihn die Frage der ostdeutschen Identitäten nicht los – für den Campact-Blog schreibt Danny Schmidt für, über und aus Ostdeutschland. Alle Beiträge

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