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7. Oktober: Holt die Geiseln zurück!

Ein Jahr nach dem Terrorangriff der Hamas droht der Krieg im Nahen Osten vollkommen zu eskalieren. Raluca Ganea von Campacts Schwesterorganisation Zazim arbeitet in Israel auf einen Waffenstillstand hin. Hier erklärt sie, warum.

Ein Mann schaut sich eine große Collage aus Fotos an. Die Fotos zeigen die Opfer des Angriffes der Hamas auf das Nova Musikfestival am 7. Oktober 2023.
Eine große Collage aus Fotos gedenkt der Opfer des Angriffes der Hamas auf das Nova Musikfestival am 7. Oktober 2023. Das "Nova Festival Victims Memorial" wurde auf dem ehemaligen Parkplatz des Festivalgeländes bei Re'im errichtet. Foto: IMAGO / UPI Photo

Ein Jahr nach dem 7. Oktober ist die Nahostkonfliktdebatte hierzulande so sehr von Rassismus und Antisemitismus geprägt, von Verletzungen und Verhärtungen auf beiden Seiten. Die Debatte hat sich so festgefahren in dem Dilemma, dass es nur zwei Seiten geben könne und nichts dazwischen, dass es schwerfällt, die richtigen Worte zu finden. 

Ich finde: Der Jahrestag des Terrorangriffs der Hamas auf Israel sollte vor allem ein Tag des Zuhörens sein. Hören wir den Menschen zu, die Geliebte und Angehörige verloren haben. Denen, die sich genau deshalb für Verhandlungen einsetzen, für einen Waffenstillstand und ein Geisel-Abkommen. Eine wichtige Stimme aus Israel ist Raluca Ganea, Geschäftsführerin von Zazim („We are moving“), der größten Kampagnenorganisation in Israel. Mit ihr habe ich über den 7. Oktober gesprochen. 

Wenn Du den Kontext des Konflikts schon kennst, kannst Du hier direkt zum Interview mit Raluca Ganea springen.

Hintergrund: Der 7. Oktober 2023

Am Morgen des 7. Oktober 2023 stürmen Hunderte Hamas-Kämpfer aus Gaza über den Grenzzaun nach Israel. Sie töten mehr als 1100 Menschen – Familien in ihren Häusern in Kibbuzim, Feiernde auf einem Festival – foltern und vergewaltigen Hunderte und nehmen etwa 240 Menschen als Geiseln. 

Für Jüdinnen und Juden auf der ganzen Welt und ganz besonders für die israelische Bevölkerung ist das ein kollektives Trauma. So gut wie jeder und jede in Israel kennt Menschen, die verschleppt oder ermordet wurden. Für ein Geisel-Abkommen sind über Monate hinweg immer wieder Hunderttausende Israelis auf die Straße gegangen. Sogar ein Generalstreik wurde ausgerufen. Doch die indirekten Verhandlungen zwischen der israelischen Regierung und der Hamas hat Israels Premierminister Benjamin Netanjahu immer wieder torpediert. 97 Menschen sind bis heute in der Gewalt der Hamas. 33 von ihnen sollen nach israelischen Angaben bereits tot sein.

Webinar: „Israel & Palästina“ 

In einem Webinar am Mittwoch, 9. Oktober, 20.30 Uhr wird Raluca Ganea mehr zur aktuellen Situation in Israel erzählen und mit palästinensischen und israelischen Expert*innen einen „Pathway to Peace“ diskutieren. Die Diskussion wird auf Deutsch und Englisch stattfinden. 

und die Folgen

Ende Oktober 2023 begann Israel mit dem Krieg im Gazastreifen. Seitdem hat die Armee dort mehr als 40.000 Menschen getötet, und 1,9 Millionen der 2,1 Millionen Menschen in Gaza zu Binnenflüchtlingen gemacht. Auch im Westjordanland greifen israelische Siedler die palästinensische Bevölkerung an – geschützt vom Militär. Seit der Krieg begonnen hat, sind dort mehr als 600 Palästinenser*innen getötet worden. 

Seit Kriegsbeginn feuert die Hisbollah aus dem Südlibanon Raketen auf Israel. Seit Ende September dieses Jahres greift die israelische Armee Ziele der Hamas und der Hisbollah im Libanon an und hat wichtige Köpfe der Terrororganisationen getötet. Anfang Oktober rückten israelische Bodentruppen im Südlibanon ein. Insgesamt starben im Libanon bisher etwa 1.700 Menschen, eine Million wurde vertrieben. 

Das iranische Regime, Verbündeter und Finanzier der Hisbollah und der Hamas, feuerte am 2. Oktober rund 180 Raketen auf Israel ab. Israels Premierminister Benjamin Netanjahu hat bereits Vergeltung angekündigt.

3 Fragen an Raluca Ganea, Geschäftsführerin von Zazim

Was passiert heute, ein Jahr nach dem Terrorangriff der Hamas, in Israel?

Viele Menschen, darunter enge Freund*innen und Kolleg*innen von mir, werden den Tag auf dem Friedhof verbringen. Der 7. Oktober wird ein sehr trauriger Tag sein, ein weiterer in einem sehr schrecklichen und traumatischen Jahr – vor allem, weil die Dinge immer weiter eskalieren und immer mehr unschuldige Menschen ihr Leben verlieren. In Israel, im Gazastreifen, im Westjordanland und jetzt auch im Libanon. Wir befinden uns mitten in einer weiteren Eskalation, in einem kompletten Krieg mit dem Libanon, der das Leben im Norden Israels und im Süden des Libanon unmöglich macht, und in einer noch nie dagewesenen Eskalation mit dem Iran. 

Raluca Ganea ist Gründerin und Geschäftsführerin von Zazim, der größten Kampagnenorganisation in Israel, in der jüdische und arabische Menschen zusammenarbeiten. 

Der ganze Monat ist in Israel dem Gedenken an die Verstorbenen vom 7. Oktober gewidmet. Aber viele von uns wünschen sich, dass dieser Monat dazu genutzt wird, die noch lebenden Geiseln zurückzubringen, einen Waffenstillstand zu erreichen und eine Zukunft in Frieden aufzubauen. Es ist schwer, den 7. Oktober als Gedenktag zu behandeln. Als wäre er etwas, das in der Vergangenheit geschehen ist, wenn doch die traurige Wahrheit ist, dass wir uns immer noch im Krieg befinden und unsere Regierung nichts tut, um ihn zu beenden.  

Der iranische Raketenangriff am vergangenen Dienstag, der fast zeitgleich mit einem Terroranschlag der Hamas in der Nähe meines Hauses in Jaffa (südlich von Tel Aviv, Anm. d. Red.) stattfand, war äußerst beängstigend. Und ich mache mir Sorgen, dass es noch schlimmer werden könnte. Aktuell müssen wir damit rechnen, dass Israel den Iran angreift. Deshalb werden viele von uns heute, am 7. Oktober, so gut es geht in Sicherheit bleiben, aus Angst vor einem weiteren iranischen Angriff in dieser schrecklichen Eskalationsspirale. 

Wie schaffst Du es, nach all den Verlusten und all dem Schmerz, immer noch auf einen Waffenstillstand hinzuarbeiten, auf die Freilassung der Geiseln und den Beginn eines Friedensprozesses?

Um ehrlich zu sein: Ich habe gar keine andere Wahl. Ein Waffenstillstand ist einfach ein humanitäres und moralisches Gebot. Ein Geisel-Abkommen ist die einzige Möglichkeit für die israelische Gesellschaft, sich von diesem Bruch des Gesellschaftsvertrags zu erholen, den es zwischen der Regierung und ihren Bürger*innen gegeben hat. Ich glaube nicht, dass wir uns als demokratische Gesellschaft ohne die Rückgabe der Geiseln erholen können. Was den Friedensprozess betrifft, so ist das schlicht der einzige Weg, um eine Zukunft für alle Menschen in der Region zu gewährleisten. Wer sich für den Frieden entscheidet, entscheidet sich für Leben, Sicherheit, Demokratie und Freiheit. Selbst die notwendigsten militärischen Verteidigungsmaßnahmen gegen die Hamas oder die Hisbollah können nicht ohne einen politischen und diplomatischen Plan für den Tag danach auskommen. 

Was, würdest Du sagen, könnten oder sollten Menschen in Deutschland tun, mit Blick auf den 7. Oktober, um progressive Menschen in Israel und Organisationen wie Zazim zu unterstützen?

Wir alle würden es begrüßen, wenn die Menschen in Deutschland und in der ganzen Welt eine menschenfreundliche Haltung einnehmen würden. Eine, bei der man sich nicht entscheiden muss, ob man pro-israelisch oder pro-palästinensisch ist. Menschen sind Menschen, und wir alle haben ein Recht auf Leben, Sicherheit und Frieden. Es ist sehr wichtig, den Schmerz und das Leid auf beiden Seiten anzuerkennen, ohne daraus ein Nullsummenspiel zu machen und den Extremisten auf beiden Seiten in die Hände zu spielen. Wir alle haben etwas Besseres verdient.


Anmerkung der Redaktion: In der ersten Version dieses Textes war die Rede von 6 Millionen Menschen in Gaza. Die korrekte Zahl beträgt 2,1 Millionen. Außerdem hieß es, dass die Verhandlungen zwischen der israelischen Regierung und der Hamas ereignislos endeten. Auch diese Aussage haben wir nachträglich korrigiert. 

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Autor*innen

Lara Eckstein hat im Journalismus-Studium Interviews mit Überlebenden des Holocausts geführt und ist seitdem glühende Antifaschistin. Bei Campact arbeitet sie als Campaignerin gegen Rechtsextremismus; privat ist sie als stadtpolitische Aktivistin in Berlin im Einsatz. Hier bloggt sie zu Erinnerungspolitik und gegen das Vergessen. Alle Beiträge

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