Europa Migration
Abwanderung vom Balkan: Wenn Chancen zum Risiko werden
Wenn es um die Gewinnung von Fachkräften aus dem Ausland geht, wird nur über die Vorteile für Deutschland gesprochen, selten bis gar nicht über die Konsequenzen für die Herkunftsländer. Was passiert in Ländern, die EU-Beitrittskandidaten sind, wenn die Jugend abwandert?
Es war Anfang der 90er Jahre, als der Leipziger Schriftsteller Clemens Meyer eine Pionierin der Fachkräfte-Zuwanderung vom Balkan kennenlernte. Er war damals noch Teenager und seine Eltern hatten sich gerade getrennt. Sein Vater, selbst Krankenpfleger, arbeitete in der Klinik in Leipzig mit einer Ärztin aus Tirana zusammen, verliebte sich und blieb mit ihr einige Jahre zusammen.
Als Meyer vor ein paar Wochen in Tirana war, berichtete er, wie ungewöhnlich alles damals noch war; wie sein Vater Albanien in den 90ern erlebte. Das Regime des 1985 gestorbenen Diktators Enver Hoxha war gerade erst kollabiert, das Land lag am Boden. Man habe seinen großen und stämmigen Vater damals, als er in die albanische Hauptstadt reiste, für einen Bud Spencer gehalten, sagte Meyer. Kinder seien ihm in Scharen hinterhergelaufen und hätten auf Italienisch „Tedesco, Tedesco“ hinterhergerufen, „Deutscher, Deutscher“.
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Fachkräfteoffensive gegen die Pflege-Katastrophe
Heute ist an der Zuwanderung von Fachkräften aus Südosteuropa nach Deutschland gar nichts mehr ungewöhnlich. Sie sind im Gesundheitswesen im Einsatz, aber zum Beispiel auch in Handwerksbetrieben und der Dienstleistungsbranche. Es gibt eine Westbalkanregelung, die es interessierten Arbeitnehmern auch ohne anerkannte berufliche Qualifikation erlaubt, ein Visum zu bekommen, wenn sie ein verbindliches Jobangebot vorlegen können. Ausgenommen sind bestimmte reglementierte Berufe wie Ärzte und Ärztinnen.
Propagandistisch wird in Deutschland seit ein paar Jahren eine Menge getan, um die Fachkräftegewinnung anzukurbeln. Besonders symbolträchtig ging es im Februar 2023 am „Sheshi Franc J. Shtraus“ in Tirana zu, einem Platz, der in Erinnerung an die Albanien-Visite von CSU-Chef Franz-Josef Strauß 1984 und seine Begegnung mit Diktator Enver Hoxha benannt wurde. Dort verkündete Ministerpräsident Markus Söder (CSU) seine Fachkräfteoffensive. Vor einer „humanitären Katastrophe“ in der deutschen Gesundheits- und Pflegebranche warnte damals sein Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU) zur Begründung.
Über die Auswirkungen ihrer Kampagne in den Herkunftsländern der Fachkräfte sprachen die CSU-Politiker nicht. Die sehen, um nur ein Beispiel zu nennen, so aus: In der albanischen Kleinstadt Peshkopi im Osten des Landes an der Grenze zu Nordmazedonien gibt es nur noch wenige Krankenschwestern. Alle anderen sind ins Ausland abgewandert.
Chancen für die Jugend …
Tatsächlich ist der Auswanderungsdruck erheblich, wie eine Studie des Wiener Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung erst vor wenigen Tagen belegte. Im Auftrag der SPD-nahen Stiftung waren fast 9000 Jugendliche in zwölf südosteuropäischen Ländern befragt worden. Korruption und Arbeitsplatzunsicherheit standen als Problemthemen ganz oben. Mehr als ein Viertel der Befragten in der Region denkt an Auswanderung, besonders hoch ist der Anteil in Nordmazedonien (43 Prozent), Albanien (37 Prozent) und der Türkei (36 Prozent). In EU-Mitgliedsstaaten wie Bulgarien, Kroatien, Rumänien und Slowenien sind die Werte deutlich niedriger.
Der Wunsch, das eigene Land für immer zu verlassen, ist zwar im Vergleich zur Studie 2018 gesunken. Trotzdem beantwortete in den meisten Ländern ohne EU-Mitgliedschaft – Serbien und Montenegro mit niedrigerem Anteil – immer noch etwa jeder Dritte die Frage mit Ja.
Seit Asylverfahren von Ausreisewilligen aus den Balkanstaaten kaum noch eine Chance haben, ist die Fachkräftezuwanderung eine der Optionen, das Glück im Ausland zu suchen und der immer noch unsicheren wirtschaftlichen Lage in der Heimat zu entkommen.
… aber Nachteile für die ältere Bevölkerung
Unproblematisch ist dieser Trend allerdings nicht, von einer Win-Win-Situation kann nicht die Rede sein. Das wurde im April beispielhaft geschildert in einer NDR-Fernsehdokumentation mit dem Titel „Albaniens letzte Pfleger – gehen oder bleiben?“. Wenn in Deutschland in Alten- und Pflegeheimen, Krankenhäusern und Kindertagesstätten Arbeitskräfte aus Südosteuropa gewonnen werden, so fehlen sie meist unmittelbar in ihrer Heimat. Und kaum einer denkt daran, dass alte Menschen in abgelegenen albanischen Dörfern verelenden, weil soziale Versorgungsstrukturen zusammenbrechen.
Eine weitere soziale Verwerfung: Viele ausgewanderte Fachkräfte lassen ihre Familien zurück, geben die eigenen Kinder an die Großeltern – weil der Aufenthalt für alle nicht zu finanzieren ist.
„Das ist tatsächlich ein Spagat“, gibt auch der SPD-Bundestagsabgeordnete Bernd Rützel mit Blick auf das Thema zu. Der bayerische Politiker leitete im September eine Bundestagsdelegation, die sich in Nordmazedonien, im Kosovo und in Albanien zum Thema „Fachkräftegewinnung“ informierte.
Rützel sagt: „Wir haben auf unserer Reise immer wieder darüber gesprochen, dass die Länder des Westbalkans selbst attraktiv sein müssen für ihre jungen Leute. Dazu zählen eine gute soziale Absicherung, ein ordentlicher Mindestlohn und eine gute gesundheitliche Versorgung.“ Er habe auf der Reise „einige positive Beispiele dafür gesehen“. Prinzipiell aber würden diese Anstrengungen mit Blick auf die Zukunft und einem möglichen EU-Beitritt – dann mit Arbeitnehmerfreizügigkeit – immer wichtiger.
Albanien ist ein EU-Beitrittskandidat – und nimmt für eine mögliche Mitgliedschaft einiges in Kauf, wie Matthias Meisner bereits hier schrieb:
Risiken sind enorm
Das alles ist viel leichter gesagt als getan. Vor ein paar Tagen sagte der Osteuropa-Experte Ulf Brunnbauer, Professor für die Geschichte Südost- und Osteuropas an der Universität Regensburg, in einem Interview mit der taz mit Blick auf die Westbalkanstaaten: „Die Länder sind nach wie vor von enormer Abwanderung betroffen. Die gut ausgebildeten Arbeitskräfte verlassen das Land.“ Dazu sorge der ewige Beitrittsprozess für Stillstand und diene einigen politischen Führern vor Ort als gute Ausrede dafür, notwendige Reformen zu unterlassen: „Daher ist die Zustimmung zu einem EU-Beitritt zuweilen nicht mehr enthusiastisch. Manche haben die Hoffnung aufgegeben.“
Der mit der Gewinnung von Fachkräften verbundene Preis ist also hoch. Und es wäre leichtfertig, Brunnbauers laute Warnung als alarmistisch abzutun. Der Fachmann ist inzwischen sehr pessimistisch. Er sagt: „Meine Befürchtung ist, dass in ein paar Jahren kaum noch jemand in diesen Ländern leben wird. Dann existiert nur noch eine politische Elite, die sich selbst und ein paar alte Leute, die nicht auswandern konnten, regiert.“