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Nächster Halt: Entkriminalisierung

Über zwei Jahre hat sich die Initiative Freiheitsfonds dafür eingesetzt, dass Fahren ohne Ticket entkriminalisiert wird. Auf ihren Druck legte das Justizministerium jetzt den entsprechenden Gesetzesentwurf vor. Ein wichtiger Erfolg – allerdings mit einigen Schwachstellen.

Aktive bei einer Aktion zur Konferenz der Justizminister*innen der Länder in Hohenschwangau. Foto: Foto: Christof Stache / Campact (CC BY-NC 2.0)
Aktive bei einer Aktion zur Konferenz der Justizminister*innen der Länder in Hohenschwangau. Foto: Christof Stache / Campact (CC BY-NC 2.0)

Viele Menschen sind schon einmal ohne Ticket mit dem Bus oder der Straßenbahn gefahren – sei es aus Versehen, aus Geldmangel oder anderen Gründen. Werden sie erwischt, können viele die Geldstrafe einfach bezahlen. Wer das nicht kann, gerät in Not: Menschen ohne finanzielle Mittel oder in schwierigen Lebenslagen landen für ein fehlendes Ticket oft im Gefängnis. Manche von ihnen oder Angehörige wenden sich dann an den Freiheitsfonds, zum Beispiel die Sozialarbeiterin aus NRW, die für Herrn J. zuständig war.

Paragraf aus der NS-Zeit

Herr J. wurde wegen vier fehlender S-Bahn-Tickets für über drei Monate inhaftiert. Weil er eine Sozialphobie hat, ist er in Isolationshaft. Wie Herrn J. geht es rund 7.000 Menschen im Jahr. Grund dafür ist Paragraf 265a StGB, der 1935 in der NS-Zeit eingeführt wurde, und das „Erschleichen von Leistungen“ als Straftatbestand festlegt. Diese Regelung führt zu entwürdigenden Konsequenzen für Menschen, die bereits in prekären Lebenssituationen sind: wohnungslose, erwerbslose oder psychisch erkrankte Personen sind besonders betroffen. Sie werden durch den veralteten Paragrafen unnötig kriminalisiert.

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Die sozialen und finanziellen Folgen sind erheblich: Die Ersatzfreiheitsstrafe trifft die Ärmsten und belastet die Justiz enorm – bei einem Schaden, der oft nur wenige Euro beträgt. Der Staat verschwendet jährlich Millionen Euro für den Vollzug dieser Strafen, statt das Geld in günstigeren Nahverkehr und soziale Hilfsangebote zu investieren. Ein einziger Hafttag kostet den Staat rund 150 Euro. Um diese unverhältnismäßige Praxis zu beenden, startete die Initiative Freiheitsfonds eine Petition zur Abschaffung der Kriminalisierung des Fahrens ohne Fahrschein. Der Druck auf das Justizministerium zeigt Wirkung: Es liegt nun endlich ein Gesetzesentwurf zur Entkriminalisierung vor.

Der Kampf für soziale Gerechtigkeit 

Den öffentlichen Auftakt der Kampagne bildete im Dezember 2021 eine aufrüttelnde Recherche des Freiheitsfonds im Zusammenarbeit mit dem ZDF Magazin Royale. Hier zeigte Moderator Jan Böhmermann sehr deutlich, dass es um eine Sanktionierung von Armutsbetroffenen geht. Kurz darauf ging die Petition an den Start und sammelte sofort über 100.000 Unterstützer*innen hinter sich. Im Juni 2022 konnten die Petenten die Unterschriften bei der Justizminister*innenkonferenz in Hohenschwangau übergeben.

WeAct-Petent Arne Semsrott (Mitte) übergibt die Petition zur Abschaffung des Paragrafen 265a stellvertretend an die Hamburger Justizministerin Anna Gallina (Die Grünen, links). Foto: Christof Stache / Campact (CC BY-NC 2.0)
WeAct-Petent Arne Semsrott (Mitte) übergibt die Petition zur Abschaffung des Paragrafen 265a stellvertretend an die Hamburger Justizministerin Anna Gallina (Die Grünen, links). Foto: Christof Stache / Campact (CC BY-NC 2.0)

Ein weiterer wichtiger Moment im April 2023: Petitionsstarter Arne Semsrott war als Vertreter des Freiheitsfonds in der Rolle eines Sachverständigen im Bundestag geladen, während der Rechtsausschuss über die Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafen diskutierte. SPD und Grüne befürworteten so eine Reform.

Hinter ihnen steht die große Mehrheit der Deutschen – das zeigt auch eine Infratest-Umfrage. Mehr als zwei Drittel der Deutschen wollen, dass Fahren ohne Fahrschein keine Straftat mehr ist. Unterstützung gibt es über alle Parteigrenzen hinweg.

Städte und Kommunen setzen um, was der Bund verschläft

Während bundesweit noch Menschen wegen fehlender Tickets ins Gefängnis müssen, setzen einige Städte neue Maßstäbe. Bremen, Düsseldorf und Dresden verzichten auf Strafanzeigen und bieten gerechte Alternativen.

In Bremen stellte man 2023 die Anzeigen ein, nachdem die Strafverfolgung jährlich über 32.000 Euro gekostet hatte. Nun zahlen finanziell benachteiligte Personen, die wiederholt ohne Ticket unterwegs sind, 10 Euro monatlich für ihr Ticket, den Rest übernimmt das Land – eine kostensparende Lösung, da ein Haftplatz in Bremen etwa 130 Euro pro Tag kostet.

Auch in Dresden beschloss der Stadtrat im Juni 2024, auf Strafanzeigen zu verzichten. Wer ohne Ticket fährt, zahlt ein Bußgeld von 60 Euro, ohne das Risiko einer Haftstrafe. Das entlastet die Justiz.

Düsseldorf führte schon im Sommer 2023 eine Reform ein. Ein fraktionsübergreifender Antrag (Die Linke, SPD, Grüne, FDP und Klima-Fraktion) sorgte dafür, dass keine Strafanzeigen mehr wegen Fahrens ohne Fahrschein gestellt werden. Die CDU erinnerte daran, dass 2017 auch der damalige NRW-Justizminister Peter Biesenbach (CDU) eine Entkriminalisierung erwogen hatte.

Auch Wiesbaden folgte 2023 diesen Weg: Ein Antrag der Grünen, SPD, Linken und Volt führte zum Verzicht auf Strafanzeigen für das Fahren ohne Ticket. Der Antrag betonte, dass vor allem Menschen in prekären Situationen betroffen sind, die dann häufig wegen Ersatzfreiheitsstrafen in Haft gehen müssen.

Bremerhaven zeigte bereits 2012, dass diese Strategie funktioniert. Die Verkehrsbetriebe stellten Strafanträge ein, da der Verwaltungsaufwand im Vergleich zum Nutzen zu hoch war. „Der Aufwand, um Adressen herauszufinden, steht in keinem Verhältnis zum finanziellen Nutzen,“ erklärte Hans-Jürgen Jahnke, Prokurist bei Bremerhaven Bus.

Diese Städte zeigen: Entkriminalisierung ist möglich, sozial gerecht und wirtschaftlich sinnvoll, denn sie vermeidet unnötige Ausgaben und setzt Ressourcen dort ein, wo sie wirklich gebraucht werden. 

Entkriminalisierung jetzt

Die ersten Schritte sind zwar gemacht. Doch damit die Reform realisiert wird, müsste sie noch in dieser Legislaturperiode verabschiedet werden. Die Regierung ist gerade gescheitert – und es ist unsicher, ob eine zukünftige Regierung unter einem Kanzler Merz das Thema Entkriminalisierung weiter verfolgen würde. Die Gefahr ist groß, dass der aktuelle Vorstoß wieder von der politischen Agenda verschwindet und das Ziel in weite Ferne rückt.

Bundeskanzler Olaf Scholz hat am Mittwochabend angekündigt, in den kommenden Wochen der Bundesregierung Gesetze vorzulegen, die keinen Aufschub dulden – die Entkriminalisierung von Fahren ohne Fahrschein muss da dazu gehören. 

Selbst kurze Haftstrafen haben gravierende Folgen

Der bisherige Entwurf ist für den Freiheitsfonds, zwar ein wichtiger, aber nur ein halber Erfolg. Zwar soll Fahren ohne Ticket zu einer Ordnungswidrigkeit herabgestuft werden, doch auch das lässt Erzwingungshaft zu. Menschen könnten weiterhin hinter Gittern landen, wenn sie die Bußgelder nicht zahlen können. Selbst kurze Haftstrafen haben gravierende Folgen: Viele Betroffene erleben in dieser Zeit schwere Krisen. Gerade in den ersten Hafttagen passieren die meisten Suizidversuche

Der Freiheitsfonds fordert daher weiterhin eine vollständige Entkriminalisierung, um Betroffene wirklich vor Haft zu schützen. Denn noch immer erreichen sie täglich Hilferufe aus den Gefängnissen – mit der Bitte um Freikauf. Damit das bald nicht mehr nötig wird, werden die Initiative und ihre Unterstützer*innen nicht nachlassen!

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Autor*innen

WeAct ist die Petitionsplattform von Campact – einer Kampagnen-Organisation, die sich mit über drei Millionen Menschen für progressive Politik einsetzt. Im Campact-Blog berichtet das Team von WeAct regelmäßig über laufende Petitionen und aktuelle Erfolge. Alle Beiträge

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