Erinnern Rechtsextremismus
Eine Frage der Schuld
Heute vor 80 Jahren befreiten sowjetische Soldaten das Konzentrationslager Auschwitz – mehr als eine Million Menschen waren dort von den Nationalsozialisten inhaftiert worden. Die Erinnerung an die Vernichtungsmaschinerie wird immer wieder von Rechtsextremen torpediert. Aber auch im linken Spektrum wird ein Begriff in Stellung gebracht. Welcher das ist, schauen wir uns in diesem Text an.

Eine Rose an einem Zaun im ehemaligen Nazi-Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, wenige Tage vor dem Gedenktag der Befreiung am 27. Januar 2025. Foto: IMAGO / ZUMA Press Wire
In Deutschland eine Blogreihe zu Gedenktagen und Erinnerungskultur zu schreiben, ist normalerweise eng mit der extremen Rechten verknüpft. Immer wieder versuchen Rechtsextreme – nicht zuletzt die AfD – Geschichte umzudeuten, Nazi-Verbrechen zu verharmlosen, rassistische Angriffe ins Vergessen zu schweigen. Nicht zuletzt geht es ihnen dabei um Fragen der Schuld.
Am pointiertesten drückte es der AfD-Spitzenkandidat zur Europawahl, Maximilian Krah, aus, als er ein „Ende des Schuldkults“ forderte. Krahs Sichtweise nach dient dieser „Schuldkult“ dazu, Deutsche zu unterdrücken und sie für immer und ewig auf die Nazi-Verbrechen zu reduzieren. Warum diese Entwicklung gefährlich ist, haben wir und andere hinlänglich beschrieben.
Nach dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 erhielt Krah jedoch laute Unterstützung von unerwarteter Seite: „Free Palestine from German Guilt“ lautet ein beliebter Slogan auf propalästinensischen Demos. Die Aktivist*innen, die ihn rufen, wollen damit verdeutlichen, dass es Deutschen nicht möglich sei – quasi nicht erlaubt sei –, israelische Kriegsverbrechen gegenüber Palästinenser*innen zu verurteilen. Wegen ihrer eigenen Schuld an der Massenvernichtung von sechs Millionen Jüd*innen während des Holocausts. Dieser Argumentation zufolge führt uns unsere Vergangenheit und die Erinnerung daran in eine Gegenwart, in der sich Deutsche unhinterfragt und unkritisch auf die Seite des israelischen Staates stellen. Höchste Zeit also für eine Annäherung an die Frage: Wie ist das eigentlich mit der deutschen Schuld?
German Guilt – war da was?
Facts are facts: Die nationalsozialistische Terrorherrschaft und die industrielle Massenvernichtung von Millionen Menschen aufgrund ihrer Religion, ihrer Nationalität oder ihrer sexuellen Orientierung zog von Deutschland aus ihre zerstörerischen Kreise über ganz Europa. Zu sagen, Deutschland sei nicht Schuld gewesen am Holocaust ist ungefähr so absurd, wie Hitler einen Kommunisten zu nennen (wie Alice Weidel jüngst im Interview mit Tech-Milliardär Elon Musk behauptet hat).

Die Brandmauer nach Rechts bröckelt – und CDU-Chef Merz hilft fleißig beim Abbruch mit. Wir stellen uns schützend vor die Brandmauer und fordern: Keine Zusammenarbeit mit der AfD!
Doch die Frage, die sich 2025 stellt, ist ja nicht die nach der tatsächlichen Schuld und der Bestrafung der Täter*innen (die, vorsichtig gesagt, nicht so wahnsinnig erfolgreich durchgezogen wurde), sondern die, was danach kommt. Was bedeutet diese Schuld der 1930er und 1940er für uns heute – und verstellt unser Festhalten an der Erinnerung an diese Schuld unseren Blick auf das Leiden anderer Menschen?
Aus Schuld wird Verantwortung
Die „German Guilt“-Slogans verwischen dabei, wohl absichtlich, einen wichtigen Unterschied: den zwischen Schuld und Verantwortung. Denn im Erinnern geht es nicht um den statischen Zoom auf die Taten, derer sich jemand schuldig gemacht hat, sondern um die Frage, was aus dieser Schuld erwächst und wie man sich gegen ihre Wiederholung stemmen kann.
Erinnern ist kein Reflex, kein starrer Automatismus, sondern eine Reflexion. Es geht nicht darum, Geschichte als Vergangenheits-Momentaufnahme einzufrieren, sondern die Vergangenheit als Ausgangspunkt für Interpretationen und die Übersetzung in die Gegenwart zu nutzen: Warum ist etwas heute noch für uns wichtig – was kann uns das Geschehene für unsere Gegenwart mitgeben? Im Erinnern an die Nazizeit kann das zum Beispiel die Frage beinhalten, wie Menschen zu Opfern gemacht wurden, mit welchen Mechanismen sie dehumanisiert und ihre Deportation und Ermordung legitimiert wurde.
Wie kann eine „German responsibility“ aussehen?
Kurz: Eigentlich geht es um Verantwortung. Um eine „German responsibility“. Spoiler: Dieser Blogbeitrag kann nicht den Nahostkonflikt lösen – ich bin nicht Jared Kushner (Ironie aus). Aber wie kann diese Verantwortung aussehen?
Zunächst einmal beinhaltet sie, einen differenzierten Blick zuzulassen. Denn ja, es geht beides: Die mutwillige Zerstörung des Gaza-Streifens, die den Tod von Zivilist*innen in Kauf nimmt, anzuprangern. Die Netanjahu-Regierung, die in Kooperation mit Extremist*innen die Rechtsstaatlichkeit aushöhlen und den Gaza-Streifen dauerhaft für Palästinenser*innen unbewohnbar machen will, scharf zu kritisieren. Und gleichzeitig Antisemitismus und Angriffe auf Jüd*innen klar zu verurteilen.
Abwälzen unmöglich
Diese Verantwortung beinhaltet, die Lehren, die wir aus der deutschen Schuld ziehen, immer neu zu vergegenwärtigen und mit der Realität abzugleichen. Und dabei ist jede*r von uns gefragt – diese Aufgabe können wir nicht auf den Staat oder die deutsche Regierung abwälzen.
Schon gar nicht auf eine Regierung, bei der Maß und Mittel in dieser Frage gerne mal verrutschen. Die Antisemitismusresolution des Deutschen Bundestages hat gerade erst gezeigt, dass Antisemitismus und legitime Kritik an der israelischen Regierung allzu leichtfertig in einen Topf geworfen werden. Aber Fragen nach Schuld, Verantwortung und Erinnern sollten auch nicht staatlich sein – denn sie betreffen jede*n von uns als Einzelne*n und können nur dann wirkmächtig werden, wenn wir uns klarmachen, was sie für unser individuelles Handeln bedeuten.
Delegieren wir Erinnerungskultur an den Staat, tappen wir leicht in die Falle des Gedächtnis-Theaters, wie der Schriftsteller und Publizist Max Czollek es formuliert: Einen statischen Blick auf die Vergangenheit, der sich in Ritualen und Staatsakten selbst einfriert und statt einem Raum für Reflexion nur reflexhaftes Büßertum bietet. Erinnerungskultur kann uns im Idealfall dabei helfen, empathisch zu sein – mit Palästinenser*innen und Israel*innen, die Freund*innen und Familie verloren haben.

Antisemitische Tendenzen sind nichts Neues
Die Ähnlichkeit der „German Guilt“-Rufe mit dem Schuldkultgefasel eines Maximilian Krahs ist nicht zufällig. Antisemitische Tendenzen sind in der Linken nichts Neues – hier tritt aber besonders deutlich zutage, dass Rechtsextreme kein Monopol auf die instrumentelle Aneignung der deutschen Geschichte haben.
Auch die postkoloniale Linke muss auf diese Kritik reagieren und einige ihrer Annahmen hinterfragen, die sie anfällig für Antisemitismus macht. Wie das aussehen kann – und dass der Kampf für linke Anliegen auch mit einem klaren Fokus auf Universalismus stark sein kann, zeigen zum Beispiel Jens Balzer und Omri Böhm ausführlich.
Mehr Empathie wagen
Zum 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz-Birkenau sollte sich jede*r von uns fragen: Welche Lehren ziehe ich aus der Geschichte? Wie möchte ich historisch verantwortlich handeln? Für mich heißt das in dieser Zeit: Menschen nicht in „Gut und Böse“ einteilen und eine Zuspitzung zu forcieren, die mit der Vernichtung der als böse Markierten endet. Mehr Empathie wagen!