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„Wir müssen in diesem Land wieder mehr arbeiten“, vermeldete Friedrich Merz in seiner ersten Regierungsansprache – sonst gehe der Wohlstand flöten. Vier-Tage-Woche und Work-Life-Balance schaden der deutschen Wirtschaft, kritisierte er. 

Der Millionär und ehemalige Blackrock-Lobbyist will also, dass Deutschland wieder mehr arbeitet. Dabei arbeitet Deutschland längst mehr. Im Jahr 2024 gab es 4 Millionen Arbeitnehmer*innen mehr als noch vor zehn Jahren. Mit 55 Milliarden Arbeitsstunden waren es 2023 so viele wie noch nie. Die Arbeitslosenquote sank von 11,7 Prozent in 2005 auf 6,4 Prozent in 2025. 2023 wurden 775 Millionen unbezahlte Überstunden geleistet. Dazu kommen Milliarden Stunden unbezahlter Care-Arbeit, die Menschen (meist Frauen) leisten müssen, weil es zu wenig Kita- und Pflegeplätze gibt. 

Merz plant Abschied vom 8-Stunden-Tag

Schon im Wahlkampf forderte die Merz-CDU den Abschied vom 8-Stunden-Tag; einer Errungenschaft, die Gewerkschaften vor über 100 Jahren hart erkämpft haben. Dabei sind Ausnahmen schon heute unter Auflagen und für bestimmte Berufsgruppen möglich – das Arbeitszeitgesetz bietet damit eigentlich sehr viel „Flexibilität“. Stimmen aus der Union forderten trotzdem, die tägliche Höchstarbeitszeit abzuschaffen – stattdessen wären nur noch die wöchentlichen Gesamtstunden entscheidend (EU-weit sind das 48 Stunden). Die Folge: 10- oder gar 12-Stunden-Tage könnten bald die Regel sein. 

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Work-Life-Balance 

Wer 12-Stunden-Tage will, dem ist der Begriff der „Work-Life-Balance“ zwangsläufig ein Dorn im Auge. Denn für Balance bleibt bei einem 12-Stunden-Tag keine Zeit mehr. Denn fürs Life – aka Care-Arbeit, Erholungszeit und Schlaf, Pflege, Ehrenamt, etc. – reichen zwölf Stunden eben nicht aus. 

Das Konzept der Work-Life-Balance entstand in den 1980er Jahren, damals als Antwort auf die immer flexibler werdende Arbeit (Stichwort: Telearbeit, Home-Office, Vereinbarkeit von Familie und Beruf und Co.).  

Letztlich hat das Konzept größere Schwachstellen. Gerade in der betrieblichen Praxis fungiert Work-Life-Balance vor allem unter wettbewerbsstrategischen Vorzeichen. Unternehmen nutzten die vermeintliche Work-Life-Balance vermehrt als Rekrutierungselement. Die Verantwortung für die Balance lag weiter bei den Arbeitnehmer*innen selbst.

Gesundheitliche Folgen von zu viel Arbeit 

Das Konzept hat zwar größere Schwachstellen und allein der Begriff wirkt aus der Zeit gefallen: Doch was Merz übersieht, sind die Folgen von zu viel „Work“ und zu wenig „Balance“. Damit Arbeitnehmer*innen gesund und leistungsfähig bleiben, braucht es irgendein Gleichgewicht. 

Auch die Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) und SPD-Politikerin Yasmin Fahimi kritisiert die Ausweitung der Arbeitszeiten und warnt vor einem „Kollaps“. Burn-out-Erkrankungen nehmen in den letzten 20 Jahren immer weiter zu. Die wirtschaftlichen Schäden bei Ausfall durch Burnout und Co. sind immens. Wer die Wirtschaft ankurbeln will, darf den Faktor Gesundheit also nicht übergehen.

Ehegattensplitting belohnt die, die weniger arbeiten

Was Merz in seiner Regierungserklärung auch übergangen hat, ist der hohe Anteil an Menschen, die in Teilzeit arbeiten. Laut Statistischem Bundesamt sind es bei Frauen knapp 49 Prozent, bei Männern 12 Prozent. Interessant ist das aus dem Aspekt, weil die Merz-CDU seit Jahren am Ehegattensplitting festhält und finanziell die Partnerschaften belohnt, in denen ein Part (meistens die Frau) weniger lohnarbeitet. 

Frauen arbeiten längst mehr als Männer

Die Berufstätigkeit von Müttern hat Bärbel Bas (SPD) im Blick und will sie steigern, das sagte sie der Bild am Sonntag. Die Arbeitsministerin betonte, viele Frauen säßen unfreiwillig in der Teilzeitfalle. Die Gründe sind vielfältig: Es mangelt an Kinderbetreuung, familienfreundliche Arbeitsmodelle fehlen. Was Bas nicht betont, ist, dass Frauen deutlich mehr unbezahlte Care-Arbeit übernehmen: Im Schnitt sind es 30 Stunden pro Woche. Frauen arbeiten also mehr als Männer – sie leisten insgesamt 45,5 Stunden Care- und bezahlte Lohnarbeit. Männer kommen im Vergleich dazu nur auf 44,3 Stunden. 

Mehr Mütter in Vollzeit heißt: Männer übernehmen mehr Care-Arbeit

Will man, dass Frauen ihre Stunden aufstocken, dann müsste das auch heißen, dass Männer anteilig mehr Care-Arbeit übernehmen. Denn das Pflegen, Einkaufen, Putzen, Erziehen erledigt sich eben nicht allein, während beide Elternteile ihrem Beruf Vollzeit nachgehen. Auch die Diskussion auf ausreichend Kitaplätze zu reduzieren, hilft nicht. Denn Kinder haben eben auch ein Anrecht auf Zeit mit ihren Eltern – zum Beispiel auf dem Spielplatz, beim Kinderturnen oder beim Bücher lesen. Dazu kommen zahlreiche andere Aufgaben, die Eltern auch noch organisieren müssen: U-Untersuchungen, einen Schwimmkurs finden (in manchen Regionen eine echte Herausforderung), Klamotten organisieren, sich um Verabredungen kümmern, die Hausaufgaben betreuen, oder oder oder …

Zwar wollen immer mehr Männer mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen – doch immer noch fürchten sich Männer vor einem Karriereknick, wenn sie in Teilzeit gehen. Eine Studie von Susanne Wanger und Enzo Weber für das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung zeigt, dass sich Familienhaushalte eine Gesamterwerbsarbeit von 67 Stunden pro Woche (Care-Arbeit nicht eingerechnet!) wünschen; das entspricht 33,5 Stunden pro Person. 67 Stunden sind rund 67,5 Prozent mehr als in dem früheren 40+0-Modell, an das sich Merz eigentlich gut erinnern müsste. 

Weniger Work-Life-Balance löst keinen Fachkräftemangel 

Und Merz übersieht noch etwas. Deutschland braucht Fachkräfte. Laut dem Präsidenten des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW), Michael Hüther, fehlen bis Ende des Jahrzehnts 4,2 Milliarden Arbeitsstunden. „Wir alle erleben den Fachkräftemangel schon jetzt tagtäglich: Restaurants haben häufiger geschlossen als früher, Pflegekräfte sind überarbeitet, weil sie zu wenige Kolleginnen und Kollegen haben. Ähnlich sieht es in Kitas und kleinen Handwerksbetrieben aus“, sagte er dem Spiegel.

Doch den Fachkräftemangel besiegt man nicht, indem man die „Deutschen“ wieder zu mehr Arbeit zwingt und die Grenzen dichtmacht. Ohne Migration lässt sich der demografische Personalmangel nicht lösen – daran ändern auch Merz’ Reden über Work-Life-Balance nichts. 

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Autor*innen

Vera Kuchler arbeitet seit 2017 als Redakteurin bei Campact. Die ausgebildete Soziologin und gelernte Journalistin beschäftigt sich im Blog vor allem mit dem Thema „Arbeit und Geschlecht“. Alle Beiträge

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