Medien Menschenrechte
Ich verachte Antisemitismus. Und ich bin strikt gegen jede Menschenrechtsverletzung. Ohne Wenn und Aber. Wenn ich für beides einstehe, kann ich dann überhaupt eine Kolumne schreiben zum Umgang der deutschen Öffentlichkeit mit dem Nahostkonflikt und der Kriegsführung von Israel? Eine, die allen gerecht wird?! Muss ich mich auf eine Seite schlagen?
Was Patrick Gensing so treffend sagt: „Das ganze Thema ist leider voller Widersprüche, fürchterlich kompliziert und aufgeladen. Aber es ist wie immer: Wegducken gilt nicht und macht die Situation auch nicht besser.“
Petition: Stoppt die Kriegsverbrechen in Gaza!
Eine Petition auf WeAct, der Petitionsplattform von Campact, fordert von der aktuellen Bundesregierung, sich für ein Ende der Kriegsverbrechen in Gaza einzusetzen. Über 200.000 Menschen unterstützen die Petition bereits.
Gensing war lange Leiter des Ressorts „Faktenfinder“ bei der ARD, inzwischen kommuniziert er für den FC St. Pauli. Er ist ebenso Experte für Antisemitismus wie für politischen Fanatismus (vielleicht damit sogar für Netanjahu?). Patrick Gensing hat vor ein paar Tagen auf LinkedIn ermahnt: „So richtig und wichtig es ist, mutmaßliche Kriegsverbrechen zu verfolgen und sich für einen Waffenstillstand (UND die Freilassung der Geiseln) in Gaza einzusetzen – wir dürfen dabei nicht aus dem Blick verlieren, dass hierzulande das Gerede von ‚Nie Wieder‘ immer mehr zur Farce wird, wenn Jüdinnen und Juden auf offener Straße bedroht und attackiert werden.“
Große Teile der Gesellschaft passiv
Gensing beobachtet die Radikalisierung eines Milieus, das sich nicht wirklich für Frieden interessiere, sondern einen Sieg „from the river to the sea“ wolle, „was gleichbedeutend wäre mit dem Ende des einzigen jüdischen Staates weltweit und einer massenhaften Vertreibung sowie mit Massenmord“.
„From the river to the sea“
Englisch für „Vom Flusse bis zum Meer“; die komplette Phrase lautet: „From the river to the sea, Palestine will be free“. Die Parole wird im Kontext mit dem Israel-Palästina-Konflikt verwendet. Sie bezieht sich auf das Gebiet zwischen dem Fluss Jordan und dem Mittelmeer im Westen, auf dem der Staat Israel, aber auch Palästina liegt. Die Phrase ist bereits seit der Gründung Israels 1948 im Umlauf.
Wer diese „einseitige Position“ kritisiere oder lediglich nicht mittragen wolle, werde eingeschüchtert und bedroht. „Angesichts dieser Situation wäre es eher eine positive Überraschung, wenn es keine weiteren schweren Übergriffe auf jüdische Einrichtungen und Jüdinnen sowie Juden geben würde.“ Gensing schreibt: „Soweit ist es gekommen – und bis heute bleiben große Teile der Gesellschaft bemerkenswert passiv.“
Alles richtig.
Fast zeitgleich mit Gensings Posting bekam ich eine E-Mail eines freien Journalisten aus Berlin. Wir kannten uns bisher nicht. Er möchte anonym bleiben. Er schreibt mir: „Seit Monaten empfinde ich eine diffuse Scham und Schuld. Viele deutsche Medien waren lange Zeit problematisch zurückhaltend dabei, zu benennen, was in Gaza passiert: Kriegsverbrechen, vermutlich sogar Völkermord. Unter Beihilfe der deutschen Regierung, die Waffen und diplomatische Schützenhilfe auf internationalem und europäischem Parkett liefert.“
Und weiter: „Es gibt ein Erodieren journalistischer Standards. Und ich finde die Tendenz beschämend, Palästina-Solidarität unter Generalverdacht zu stellen, Bürgerrechts-Einschränkungen zu ignorieren und Palästina-solidarische öffentliche Stimmen aggressiv durch den Vorwurf des Antisemitismus zu diskreditieren, sogar dann, wenn es sich um jüdische und israelische Stimmen handelt. Zwar hat sich in den letzten Wochen einiges verändert. Ich denke trotzdem, dass es noch erhebliche Probleme gibt.“
Auch das ist alles nicht falsch. Aber wie geht das zusammen?
An dieser Stelle zunächst ein paar Fakten.
Zum einen: Als Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) am Dienstag dieser Woche den Verfassungsschutzbericht 2024 vorstellte, war auch der eskalierende Nahostkonflikt Thema, der nach Erkenntnissen des Geheimdienstes in fast allen Feldern zu einem Mobilisierungseffekt geführt hat. Es wird zu Hass gegen Jüdinnen und Juden oder den Staat Israel aufgerufen und Israels Existenzrecht verneint.
Verfassungsschutz: Nahostkonflikt mobilisiert Rechte, Linke, Islamisten
Die taz fasste das so zusammen: Bei der Agitation sowohl online als auch realweltlich beim beinahe wöchentlichen Demonstrationsgeschehen mit Schwerpunkt in Berlin träten Islamisten, palästinensische Extremisten, türkische Rechtsextremisten sowie deutsche und türkische Linksextremisten als Mobilisierungstreiber in Erscheinung. Rechtsextreme nutzten den Konflikt ebenfalls dazu, migrationsfeindliche und antisemitische Positionen zu verbreiten. Als „Brückennarrativ“ wirkten demnach Antisemitismus und Israelfeindlichkeit, wie die Zeitung weiter schreibt.
Zum anderen: Medienkritik, wie von dem freien Journalisten angesprochen, ist bei der deutschen Gaza-Berichterstattung durchaus berechtigt. Das Blog „Altpapier“ warf vor ein paar Tagen Fragen auf: „Haben die Nachrichtenmedien beim Berichten über den Krieg in Gaza eine Schlagseite? Wie staatstragend sind sie?“ Es waren rhetorische Fragen.
Ausführlich zitierte das Blog dann einige Tage später aus dem Vortrag der Kommunikationswissenschaftlerin Nadia Zaboura auf der re:publica Ende Mai in Berlin. An vielen Beispielen beschreibt Zaboura in ihrem Vortrag zum Thema „Verlorenes Medienvertrauen, gefährdete Demokratie?“, wie die Dinge falsch laufen.
Eines dieser Beispiele: Ab Minute 14:22 kommt eine Passage, die auch über das Thema Israel/Gaza-Berichterstattung hinaus relevant ist. Es geht, wie das Blog „Altpapier“ schreibt, um die ‚unkritische Weiterverbreitung des Kommandozentralen-Narrativs‘ in den deutschen Medien. Als ein Beispiel nennt Nadia Zaboura einen Bericht von tagesschau.de aus dem April, den sie einblendet und aus dem sie Auszüge vorliest: ‚Erneuter Angriff auf Klinik […]. Die israelische Armee vermutet eine Hamas-Kommando-Zentrale in dem Gebäude.‘
Dem stellt Zaboura eine Schalte von CNN zum Korrespondenten Jeremy Diamond in Jerusalem gegenüber. In diesem CNN-Beitrag sagt Diamond: „Das israelische Militär behauptet, dass sich in dem Krankenhaus eine Kommando- und Kontrollzentrale der Hamas befand. Aber sie haben keine Beweise vorgelegt, um diese Tatsache zu untermauern. Und sie haben auch keine Beweise dafür vorgelegt, dass der militärische Vorteil, den sie durch diesen Angriff erlangt haben, den Schaden aufwiegen würde, den dieser Angriff […] (angerichtet) hat, (zumal) dieses Krankenhaus das letzte voll funktionierende Krankenhaus im nördlichen Gazastreifen war.“
Keine freie Berichterstattung aus Gaza
Das Problem der eingeschränkten Möglichkeiten von Medien, aus dem Gazastreifen zu berichten, bleibt derweil bestehen. Bereits im September 2024 starteten Journalist:innen in Deutschland einen Aufruf für Pressefreiheit im Gaza-Krieg (auch ich habe damals unterschrieben). „Kein anderes Kriegsgebiet unserer Zeit wurde so lange für die externe Berichterstattung abgeriegelt wie Gaza seit dem 7. Oktober 2023“, hieß es damals.
Getan hat sich seither – nichts. Als Reporter ohne Grenzen nun Anfang Juni in einem internationalen Appell das Thema erneut aufbrachte und den Medienzugang zum Gazastreifen und den Schutz palästinensischer Journalist:innen forderte, schlossen sich 130 Medien aus der ganzen Welt an, darunter so renommierte wie die BBC oder das französische Auslandsfernsehen France 24.
Aus dem deutschsprachigen Raum waren es gerade mal zwei: die taz und die Schweizer Wochenzeitung. Israels Regierung agiert wie eine Zensurbehörde, und in Deutschland und anderen europäischen Ländern ist das ein Nischenthema.
Unverhältnismäßige Polizeigewalt
Ein anderer Aspekt, über den ungern gesprochen wird, ist die zunehmende Härte der Polizei bei pro-palästinensischen Protesten. Sie ist – neben der Kriminalisierung der sogenannten Klima-Kleber – Thema des Anfang Juni vorgestellten „Atlas der Zivilgesellschaft“ 2025 des evangelischen Hilfswerks Brot für die Welt. Nora Markard, Professorin für Internationales Recht und Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Freiheitsrechte, sagte in einem Interview für den „Atlas der Zivilgesellschaft“: „Es gab sehr viele starke Einschränkungen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit bei den Gaza-Protesten. Das war von Verhältnismäßigkeit teilweise weit entfernt.“
Zusammengefasst: Freiheitsrechte wie die Meinungs- und Versammlungsfreiheit müssen auch in Deutschland verteidigt werden. Die deutschen Medien dürfen sich nicht länger dem Verdacht aussetzen, bei der Berichterstattung zum Thema Nahost eine Schlagseite zu haben. Israel muss zulassen, dass Journalist:innen frei aus dem Gazastreifen berichten können.
Und ja, selbstverständlich: Die Bekämpfung von Antisemitismus in all seinen Facetten muss uns alle angehen. In dieser Situation bedeutet „nicht wegducken” aber auch, die Kriegsführung Israels zu kritisieren, anzuprangern und zu verurteilen. Auch das wäre ein Beitrag, um antisemitische Stimmungen in Deutschland einzudämmen. Das Bagatellisieren und Relativieren der humanitären Katastrophe im Gazastreifen muss enden. Die Sicherheit Israels als deutsche Staatsräson darf keine Ausrede fürs Schweigen und Wegsehen sein.
Wer eine Begründung sucht, all diese zunächst widersprüchlich wirkenden Forderungen zusammenzubringen: Sie ist nachzulesen in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.