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„Nur die Nebenklageanwältin Seda Basay-Yildiz störte.“ So steht es in der Zeitung über das Gerichtsverfahren zum Brandanschlag im März 2024 in der Grünewalderstraße in Solingen. „Sie studierte die Akten des Falles genau, durchsuchte Datenträger und Internetverläufe. Dabei deckte sie einiges auf, das ein anderes Licht auf Daniel S. wirft.“

Bei dem Anschlag war die türkisch-bulgarische Familie Zhilov mit zwei Kindern getötet worden. Katya, Kancho, Galia und Emily kamen bei dem Feuer ums Leben. Das eine Kind wurde zwei Jahre und elf Monate alt, das andere fünf Monate. 21 weitere Menschen wurden verletzt.

Petition: Kein Schlussstrich im Fall Solinger Brandanschlag 2024!

Eine Petition der Opferberatung Rheinland fordert auf WeAct, der Petitionsplattform von Campact, vom NRW-Innenminister Herbert Reul, sich für eine umfassende Aufklärung des Brandanschlags einzusetzen. Fast 3000 Menschen unterstützen die Petition bereits nach einer Woche.

Der Fall polarisiert – denn zwar wurde der deutsche Täter Daniel S. zur höchsten Strafe verurteilt, die das deutsche Strafgesetz kennt. Aber das Warum, die Motivlage, wurde nicht geklärt. Der Vorsitzende Richter Joachim Kötter sah kein rassistisches Motiv, sondern führte die sinnlose Tat auf psychische Probleme des Angeklagten zurück.

Die Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız aus Frankfurt am Main bekam die Rolle der Unbequemen, der Störenfriedin. Sie vertrat als Nebenklägerin die Familie Ayse und Nihat Kostandinchev, die mit ihrem damals sieben Monate alten Baby Salih knapp überlebten. „So etwas passiert in unserem Land“, sagte Seda Basay-Yildiz. „Und wieder in Solingen.“

Ferda Ataman: Solingen als „kollektives Trauma“

Solingen – jene Stadt, in der nach einem von Rechtsextremen gelegten Brand in der Nacht vom 29. Mai 1993 fünf Menschen starben – „weil sie Türkinnen in Deutschland waren“, wie die heutige Antidiskriminierungsbeauftragte Ferda Ataman rekapitulierte. In einem Gastbeitrag für die „Zeit“ schrieb Ataman 2023, 30 Jahre nach dem Brandanschlag: „Solingen ist Chiffre für die Angst vor Neonazis, die Menschen wie mich umbringen wollen. Und sie ging nicht mehr weg. Die Angst ist Teil meines Lebens geworden, unserer Leben, der Leben von vielen Migrant:innen in diesem Land. Der Brandanschlag von Solingen ist ein kollektives Trauma.“

Und nun stellt Seda Başay-Yıldız zahlreiche brennenden Fragen zu Solingen 2.0; muss sie stellen: Warum kam die Feuerwehr so spät? Wie konnte der Prozess in Wuppertal mit einer Maßregelung des Richters an die Angehörigen beginnen? Dass sie Ruhe zu bewahren hätten, sich „benehmen“ sollten? Mit Fragen zu den zahlreichen Ermittlungsfehlern.

Ermittler fanden keine Anzeichen für Rechtsextremismus

Vor allem: Wie kann es sein, dass die Ermittler kein rassistisches Motiv fanden und es bis heute leugnen? Hitlers „Mein Kampf“ im Haus des Täters. Der Konsum des rechtsextremistischen Kanals „Compact TV“. Das volksverhetzende Gedicht „Lied eines Asylsuchenden“ in der Garage. Warum hat die Polizei nach dem Brandanschlag keine Datenträger ausgewertet?

Wie kann es sein, dass der ermittelnde Kriminalhauptkommissar beschwichtigte, nicht jeder Konsument rechter Propaganda habe ein rechtes Weltbild? Ebenjener Kommissar, der auch das Lied „Gute Nacht Mutter“ aus dem Weihnachtswunschkonzert der Wehrmacht 1940 als „zeitgemäßen Schlager“ bewertete. Daniel S. soll dieses Lied auf YouTube abgerufen haben.

Sonst wird jeder Stein dreimal, viermal, fünfmal umgedreht. Gott sei Dank ist das so. Jeder Hinz und Kunz wird gefragt. Hier hat man noch nicht einmal die Nachbarn vernommen.

Das, was hier passiert ist, ist eigentlich ein Spiegelbild unserer Gesellschaft. Alles, was rechts sein könnte, wird kleingeredet oder am besten gar nicht ermittelt.

Seda Başay-Yıldız zu den Ermittlungen zum Brandanschlag in Solingen

Die Drohungen des „NSU 2.0“

Das Trauma, von dem Ferda Ataman 2023 sprach, betrifft auch Seda Başay-Yıldız. So etwas wie im März 2024 in Solingen werde dem hohen Gericht, der Verteidigung, der Staatsanwaltschaft nicht passieren, redet sie sich zu. „Wir sind alle privilegiert, leben in schönen Gegenden in einem geschützten Umfeld. Unsere Häuser werden nicht in Brand gesteckt.“ Sie fügt hinzu: „Vielleicht auch niemals bei mir.“ Vielleicht, puh, ja, vielleicht.

Seda Başay-Yıldız – unter anderem Nebenklagevertreterin der Familie von Enver Şimşek – wurde seit 2018 jahrelang von einem „NSU 2.0“ bedroht. Enver Şimşek, erstes Mordopfer des NSU, 2000 niedergeschossen an seinem Blumenstand in Nürnberg. Die anonymen Attacken gegen Seda Başay-Yıldız und auch ihre Tochter enthielten Daten, die in einem Polizeirevier in Frankfurt am Main abgerufen worden waren.

Brandanschlag in Solingen nur „Verdachtsfall“

Nicht alle Todesopfer rechtsextremer Gewalt werden als solche erfasst. Zu diesem Ergebnis kommt eine Landzeitrecherche der „Zeit“ – insgesamt 86 Opfer fehlen in den offiziellen Zahlen. Der Anschlag in Solingen wird als „Verdachtsfall“ geführt.

Başay-Yıldız bekennt sich zum Ungehorsam

Im September erscheint das Buch „Mut zum Unmut. Eine Anleitung zur politischen Widerspenstigkeit“ von Paul Starzmann und vom Autor dieser Kolumne (eine Leseprobe ist hier auf der Seite des Verlags abrufbar). Im Vorwort schreibt Seda Başay-Yıldız: „Ungehorsam sein. Das hat mich mein ganzes Legen begleitet, ohne dass ich das zu Beginn so einordnen konnte. Es gab keine andere Alternative, um voranzukommen, um weiterzukommen. […] Ich setze mich gerne für Menschen ein. Mein Motto: Geht nicht gibt’s nicht. Zumindest ist es ein langer Weg, bis es wirklich nicht mehr geht.“

Nach dem Urteil im Prozess um den Brandanschlag im März 2024 in Solingen ist sich nur die linke Presse einig, dass mächtig etwas falsch gelaufen ist. „Ein Urteil mit schalem Beigeschmack“, schreibt Sebastian Weiermann in der Zeitung „nd“: „Die Hälfte des Plädoyers nutzte der Staatsanwalt sogar, um Başay-Yıldız, Medien und Zivilgesellschaft eine Kampagne vorzuwerfen.“

Die Initiative „NSU Watch“ war an den Prozesstagen im Landgericht Wuppertal vor Ort und hat das Prozessgeschehen dokumentiert.

Viele Gelegenheiten verpasst, Vertrauen in Rechtsstaat schwindet

In der „Taz“ kommentierte Yağmur Ekim Çay: „Es gab viele Gelegenheiten, genauer hinzusehen – und zu viele wurden verpasst. […] Gerade dieser Fall hätte einen besonders genauen Blick verlangt – denn die Frage nach einem rechtsextremen Motiv betrifft nicht nur die Angehörigen, sondern die gesamte Gesellschaft.“

Mohamed Amjahid erinnert im „Freitag“ daran, dass sich 1993 der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl weigerte, an der Trauerfeier für die Opfer von Solingen teilzunehmen. Amjahid schreibt, der Brandanschlag von Solingen 1993 habe sich im Kontext von rassistischen Anti-Migrations-Kampagnen ereignet, die von Parteien und vielen Medien befeuert worden seien. „Damals war die Union die treibende Kraft. Heute ist sie es weiterhin – neben zu vielen anderen Parteien in den Parlamenten dieses Landes. Dort und auf den Fluren der Staatsanwaltschaften und Polizeibehörden, in den Köpfen zu vieler Deutscher spukt der Geist von Helmut Kohl weiter: leugnen, verharmlosen, vertuschen.“ Genau deswegen hätten viele von Rassismus betroffene Menschen „wenig bis gar kein Vertrauen in den Rechtsstaat, der – wenn es darauf ankommt – bei der Aufklärung und Ahndung von rassistischen und rechtsextremen Hassverbrechen versagt“.

„Dann habe ich alles richtig gemacht“

Barbara Mayr, Staatsanwältin im Verfahren 2025 in Wuppertal, aber sieht sich als Opfer: „Man kann nicht einfach die Thesen – hier konkret ausländerfeindliches Motiv – immer wieder wiederholen und letztlich auch mit Dreck werfen auf die Strafverfolgungsbehörden.“

Eine der Hinterbliebenen, Ayshe Kostandinchev, sagt in einem Video der Opferberatung Rheinland: „Unsere Anwältin, Frau Seda [Başay-Yıldız] hat so sehr gekämpft, sich so sehr bemüht.“ Die Opferberatung erklärt, durch die Versäumnisse der Ermittlungsbehörden sei das Vertrauen der Betroffenen tief erschüttert worden. „Dieses Vertrauen wieder herzustellen, ist nicht gelungen, wenn es denn je Ziel war.“ Der Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG) sammelt Spenden für die Opfer.

Seda Başay-Yıldız verteidigt, dass sie die Ermittler hart angegangen ist – und es auch nach dem Urteilsspruch weiter tun wird: „Wenn die Staatsanwaltschaft mich kritisiert, dann habe ich alles richtig gemacht.“

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Autor*innen

Matthias Meisner ist freier Journalist und Buchautor in Berlin und Tirana. Er schreibt als Gast-Autor für den Campact-Blog über Menschenrechte, Geflüchtete und die Bedrohung der Demokratie. Zuletzt erschien 2023 im Herder-Verlag, gemeinsam herausgegeben mit Heike Kleffner, „Staatsgewalt – wie rechtsradikale Netzwerke die Sicherheitsbehörden unterwandern“. Infos unter www.meisnerwerk.de. Alle Beiträge

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