Demokratie Globale Gesellschaft Trump Verkehr Protest Klimakrise LGBTQIA* Antirassismus Rechtsextremismus CDU

Stell Dir vor, Du sitzt in einem Krisen-Meeting. Die Lage ist ernst und unübersichtlich. Die Frage steht im Raum: Wie machen wir weiter? Dann meldet sich jemand zu Wort. Die Stimme ist ruhig, bestimmt, klar. „Ich weiß, was jetzt zu tun ist“, sagt sie. „Folgt mir.“ Und für einen Moment fühlt es sich gut an. Entlastend. Die Richtung ist da, Du musst nicht alles selbst durchdenken. Kein Streit, keine Unsicherheit. Nur zuhören und mitgehen. Spürst Du es?

Doch es könnte auch anders laufen. Das Krisen-Meeting wird zu einem offenen Austausch. Jede und jeder bringt Ideen ein. Vielleicht ist es nicht sofort geordnet, nicht eindeutig, aber es bewegt sich. Gedanken ergänzen sich, neue Perspektiven entstehen. Es ist nicht einfacher, aber lebendiger. Und langsam formt sich ein kluger Weg, den viele mittragen. Weil er nicht von oben kommt, sondern von innen.

Es scheint fast ein Gesetz zu sein, das sich in Krisensituationen zeigt: Zwei grundlegende Haltungen. Die eine sucht Halt in Ordnung, Führung, Sicherheit. Die andere setzt auf Beteiligung, Verantwortung und gegenseitiges Zuhören. Beide Wege gibt es schon ewig. Und jeder von uns kennt beide, manchmal sogar gleichzeitig. Aber in Momenten der Entscheidung, in Zeiten von Veränderung, stellt sich uns eine Frage: Was braucht es jetzt mehr? Was stärkt uns als Gesellschaft wirklich, nicht nur für den Moment, sondern für die Überwindung der Krise(n)?

Willkommen im Campact-Blog

Schön, dass Du hier bist! Campact ist eine Kampagnen-Organisation, mit der sich 4,25 Millionen Menschen für progressive Politik einsetzen. Im Blog schreiben das Team und ausgezeichnete und versierte Gast-Autor*innen über Hintergründe und Einsichten zu progressiver Politik.

Sparta und Athen

Um zu verstehen, wie tief diese beiden Haltungen in unserer Geschichte verwurzelt sind, lohnt ein Blick zurück. Vor über 2.500 Jahren standen zwei Städte sinnbildlich für zwei völlig unterschiedliche politische Logiken: Sparta und Athen.

Sparta war die Stadt des Gehorsams, der Wehrhaftigkeit, der totalen Organisation. Alles war auf Sicherheit ausgerichtet, auf Verteidigung, auf Disziplin, auf Sieg. Selbst im Frieden trainierten die Spartaner für den Krieg. Die Welt galt als feindlich, und der Staat musste seine Bürger*innen darauf vorbereiten. Alles wurde der Logik der Macht untergeordnet.

Athen war anders. Auch hier kannte man Krieg, und doch machten die Athener eine revolutionäre Entdeckung: Sie sahen das Politische nicht als Herrschaftsform, sondern als Raum der Freiheit. Sie begannen, sich selbst zu regieren, nicht durch Perfektion, sondern durch Beteiligung.

Natürlich war diese Freiheit exklusiv. Frauen, Sklaven und Fremde waren ausgeschlossen, der Freiheitsraum war ein Privileg weniger. Und doch lag in dieser Erfahrung etwas Neues: die Idee, dass Menschen gemeinsam über ihr Zusammenleben entscheiden können – vernünftig und nachhaltig. Diese Unterscheidung begegnet uns immer wieder in der Geschichte. Sehr deutlich in zwei gegensätzlichen Denker*innen, die das 20. Jahrhundert geprägt haben wie kaum andere: Carl Schmitt und Hannah Arendt.

Der Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet

Schmitt war Staatsrechtler und Vordenker autoritärer Systeme. Seine zentrale Frage lautete: Wer entscheidet? Und seine Antwort war prägnant und gefährlich: Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet. Das Wesen der Politik sei die Unterscheidung zwischen Freund und Feind – gehörst Du dazu oder nicht? Für Schmitt ist Politik kein Raum des Gesprächs, keine Praxis der Verständigung. Politik bedeutet Gehorsam, Durchsetzung, Macht.

Was historisch klingt, ist heute wieder aktuell. Die New York Times schreibt, dass man erst mit Carl Schmitt die MAGA-Bewegung verstehen kann. Trump und seine Strategen inszenieren einen quasi-permanenten Ausnahmezustand, in dem Gerichte, Medien und politische Gegner als „Feinde“ des Volkes gelten. Demokratische Institutionen werden systematisch attackiert. Dieser Freund-Feind-Dualismus rechtfertigt autoritäres Durchgreifen – etwa als „Endkampf“ gegen das Establishment.

AfD-Politiker wie Maximilian Krah nennen Schmitt offen einen wichtigen Staatsphilosophen, in Ungarn lobt Donald Tusk die Politik von Viktor Orbáns mit bitterem Sarkasmus als „schmittianisch“. Schmitts Denken taucht überall dort auf, wo politische Macht über demokratische Verfahren gestellt wird – mal als Rechtfertigung, mal als Strategie: Politik heißt Macht, Recht ist biegsam, Demokratie ist ein Luxus.

Warum wir im Ausnahmezustand Autorität suchen

Wenn Menschen sich bedroht fühlen, in Krisen, Kriegen oder Momenten der Orientierungslosigkeit, verändert sich auch ihr politisches Empfinden. Studien aus Psychologie und Politikwissenschaft zeigen: Unsicherheit und Kontrollverlust verstärken das Bedürfnis nach Ordnung und Führung (zum Beispiel diese Studie aus 2013, diese aus 2023 mit Bezug zur Corona-Pandemie und diese aus dem Mai 2025). Wer die Welt als gefährlich erlebt, sehnt sich nach klaren Regeln, starken Ansagen, einfachen Unterscheidungen.

Dieses Muster ist tief im Menschen verankert: In Bedrohungssituationen aktivieren wir instinktiv Mechanismen, die Sicherheit über Freiheit stellen. Die Sozialpsychologie spricht hier von Compensatory Control: Wenn die innere Kontrolle brüchig wird, suchen wir Halt in äußeren Autoritäten. Politisch führt das zu mehr Gehorsam, weniger Widerspruch, größerer Akzeptanz autoritärer Maßnahmen.

So erklärt sich, warum Schmitts Denken in Krisenzeiten wieder Resonanz findet. Es spricht ein altes Sicherheitsbedürfnis an und übersetzt Angst in Ordnung. Doch hier entscheidet sich, ob Demokratie überlebt: Geben wir uns der Kontrolle hin oder lernen wir, Unsicherheit gemeinsam auszuhalten?

Der Sinn von Politik ist Freiheit

Hannah Arendt widerspricht Schmitt radikal. In ihrem Werk „Vita activa oder Vom tätigen Leben“ schreibt sie: „Der Sinn von Politik ist Freiheit.“ Nicht Sicherheit, nicht Kontrolle, sondern Freiheit. Und damit meint sie nicht, dass jeder tut, was er will. Sie meint den Raum, in dem Menschen sichtbar werden, in dem sie handeln, in dem sie sprechen, in dem sie etwas beginnen, das vorher nicht da war. Politik ist für Arendt kein Regelwerk, sie ist eine Bühne. Wer handelt, betritt diese Bühne. Wer spricht, zeigt sich. Wer handelt, verändert die Welt.

Dieser Raum der Freiheit gründet auf drei Bedingungen.

  • Erstens auf Pluralität – der Tatsache, dass wir viele sind, verschieden, widersprüchlich, und dass genau das die Voraussetzung von Politik ist.
  • Zweitens auf Individualität – dass jeder Mensch anders ist, konkret und einzigartig, und darum Sprache, Auseinandersetzung und Rede braucht.
  • Und drittens auf Natalität – die Fähigkeit, neu zu beginnen. Arendt nennt es das „Anfangen-Können“: dass jeder Mensch auch etwas Neues hervorbringen kann; dass Geschichte nicht vorbestimmt ist und die Zukunft offen bleibt.

Doch dieser Raum ist zerbrechlich. Arendt schreibt: Der Raum des Politischen verschwindet, wenn das Handeln aufhört. Auch wenn Parlamente weiter tagen, Verfassungen weiter gelten und Pressekonferenzen stattfinden, ohne politisches Handeln, ohne Beteiligung, ohne Urteilskraft ist der Raum leer.

Und genau das erleben wir heute.

Wir haben demokratische Formen, aber zu wenig Inhalt. Wir wählen, aber entscheiden nicht. Wir reden, aber urteilen nicht. Wir werden regiert, aber gestalten nicht mit. Der Raum steht leer.

Die Antwort lautet: Partizipation

Was also tun? Die Antwort lautet: Partizipation. Nicht als Mitmachoption, sondern als demokratische Praxis. Die Athener wussten das. Sie verlosten öffentliche Ämter, nicht weil sie naiv waren, sondern weil sie glaubten: Nur wer Verantwortung trägt, lernt zu urteilen. Nur wenn alle beteiligt sind, bleibt Macht in der Mitte der Gesellschaft. Wer Beteiligung verweigert, erzeugt Herrschaft. Wer sie ermöglicht, schützt die Freiheit.

Deshalb braucht es heute einen demokratischen Umbau, nicht nur strukturell, sondern kulturell. Wir benötigen Bürgerräte mit echter Entscheidungsmacht, politische Bildung, die Urteilskraft trainiert, Beteiligungsformate, die vor der Entscheidung beginnen, und Losverfahren, die neue Stimmen hörbar machen. Vor allem aber brauchen wir eine neue Sprache für Politik, die Verantwortung nicht delegiert, sondern verteilt.

Denn eines ist klar: Ein politisches System, das auf Kontrolle basiert, führt unweigerlich zur Entleerung der Demokratie. Aber ein Gemeinwesen, das auf Beteiligung setzt, schafft Räume der Freiheit. Diese Räume entstehen nicht automatisch, sie müssen betreten werden. Nicht später – jetzt.

Der Raum des Politischen ist nicht verschwunden. Er ist da, wo Menschen sich weigern, nur zu gehorchen, wo sie sprechen, wo sie handeln, wo sie gemeinsam entscheiden. Die Frage stellt sich täglich: Folgen wir einer Stimme – oder schaffen wir Räume, in denen jede und jeder zur Stimme werden kann?

TEILEN

Autor*innen

Anselm Renn ist Kommunikations- und Politikwissenschaftler. Er ist Bundesvorstand von Mehr Demokratie e.V. und setzt sich seit Jahren als Pressesprecher und Campaigner für stärkeren Bürger:inneneinfluss in der Politik auf allen Ebenen ein. Im Campact-Blog schreibt er als Gast-Autor zu den Themen Direkte Demokratie und Volksentscheide. Alle Beiträge

Auch interessant

Pressemitteilung Von Hamburg lernen
Pressemitteilung „Es ist eine Frage des Anstands, dass auch Milliardärsfamilien ihren fairen Beitrag leisten!“
Pressemitteilung „Team Freiheit“ – Die Honoratiorenpartei
Pressemitteilung EU-Gesetz zur Chatkontrolle: Zwischen Kinderschutz und digitaler Massenüberwachung
Pressemitteilung Neue „Sicherheitsgesetze“: Mit Sicherheit gefährlich
Pressemitteilung Ein Klima der Angst
Pressemitteilung Demokratieretter leben gefährlich
Pressemitteilung Wir brauchen ein Tempolimit für unsere Demokratie
Pressemitteilung Warum Klimaschutz nicht ohne Demokratieschutz geht
Pressemitteilung Was bringt ein Bundestag auf TikTok?