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Eine wache Zivilgesellschaft in Halle wehrt sich gegen rechte Raumnahme. Seit Wochen trommeln Akteur*innen in der Saalestadt für das Wir-Festival, das konstruktive Antworten auf die am 8. und 9. November geplante rechte Buchmesse „Seitenwechsel“ gibt.

Die Veranstaltung auf dem Gelände der Hallenser Messe ist eine Art Kameradschaftstreffen der Neuen Rechten. Organisiert wird die „Buchmesse für widerstreitende Meinungen“ von der rechten Dresdner Buchhändlerin Susanne Dagen, die in den vergangenen Jahren zu einer Schlüsselfigur der Szene geworden ist. Das Wir-Festival setzt seit Anfang September bis zum zweiten November-Wochenende fast 300 Termine dagegen: Es wird gelesen, debattiert, getanzt – und mal auch einfach bloß Kürbissuppe gekocht. Das inklusive, bunte Festival ist eine Graswurzelbewegung.

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„Seitenwechsel“ hingegen ist ein Wer-ist-wer der rechten Publizistik – die Organisatoren haben keinerlei Berührungsängste zu strammen Neonazis. Der Verleger Götz Kubitschek aus Schnellroda in Sachsen-Anhalt, Mitbegründer der rechtsextremen Denkfabrik „Institut für Staatspolitik“, tritt ebenso auf wie Ralf Schuler, früherer Leiter der „Bild“-Hauptstadtredaktion und heute einer der führenden Köpfe des Krawallportals „Nius“. Schuler hat damit kein Problem.

Verachtung für den ÖRR

Einer der Medienpartner: das vom thüringischen AfD-Chef Björn Höcke gehypte Internet-Radio Kontrafunk. Dessen Gründer Burkhard Müller-Ulrich arbeitete früher selbst für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Heute ist er einer seiner erbittertsten Gegner. „Das ganze Rundfunkbiotop ist gekippt. Versifft, verseucht, unsanierbar“, schreibt er.

Der zweite Medienpartner: das rechtspopulistische Blog „Tichys Einblick“. Und auch der Chefredakteur der rechtsradikalen „Jungen Freiheit“, Dieter Stein, bekommt ein Podium. Nur beispielhaft ein paar weitere Namen von Teilnehmer*innen: Uwe Tellkamp, Antje Hermenau, Matthias Matussek, Uwe Steimle, Diether Dehm, Vera Lengsfeld. Wer von ihnen noch nicht abgedriftet ist nach ganz rechts, ist auf besten Weg dorthin. Geneigte Medien – von der „Jungen Freiheit“ bis zur „Berliner Zeitung“ – feiern Dagen für ihre Initiative.

Eine Anmerkung zum Verhältnis der „Seitenwechsel“-Macher zur Pressefreiheit: Die örtliche „Mitteldeutsche Zeitung“ bekam mitgeteilt, dass sie nur in Begleitung eines „Beauftragten für Medienanfragen“ auf die Messe dürfe. „Es dient ihrer Absicherung, dass ich […] Ihre Gespräche zur Gänze aufnehme“, hieß es.

„Neurechte Kulturmenschen mit klarer politischer Agenda“

So ein Festival mitten in der eigenen Stadt – das lässt die demokratische Zivilgesellschaft von Halle (Saale) nicht einfach so stehen. Auf einem Podium der „Verlage gegen Rechts“ auf der Frankfurter Buchmesse Mitte Oktober wurde erklärt, worum es beim Wir-Festival geht: Im Vordergrund steht die Aufklärung, dass es bei „Seitenwechsel“ nicht einfach nur um „kulturbeflissene Bücherliebhaber“ geht, sondern um „Leute mit einer klaren politischen Agenda, neurechte Kulturmenschen“. Was aber gar nicht so einfach ist, wenn „die breite Stadtbevölkerung nicht politisch interessiert ist“, wie Theresa Donner von der Hallenser Buchhandlung „heiter bis wolkig“ zugibt, eine der Initiatorinnen des Wir-Festivals.

Für eine aktive Stadtgesellschaft, die miteinander ins Gespräch kommen wolle, brauche es keine rechte Buchmesse, sagte Donner auf dem Podium in Frankfurt. Die von den „Seitenwechsel“-Macher*innen proklamierte Meinungsfreiheit hält Donner für verlogen. Das Wir-Festival indes solle nicht bloß eine Gegenaktion sein, sondern Menschen ermöglichen, „sich selber zu positionieren und mitzumachen“.

Viele Ladeninhaber*innen in Halle unterstützen das. In Schaufenstern hängen Slogans wie „Wenn die ganze Welt schweigt, kann schon eine Stimme mächtig sein“ oder „Seid Menschen. Wir sind alle gleich“. Der ehemalige SPD-Bundestagsabgeordnete Karamba Diaby sagte, er finde das Festival „sehr, sehr wichtig“. An diesem Beispiel sehe man, dass Menschen aufstehen, aufmerksam machen „auf die Bedeutung von Demokratie, die Bedeutung von Vielfalt und den Zusammenhalt in der Gesellschaft“.

Antifa informiert über „Seitenwechsel“-Aussteller

Antifaschistische Akteure informieren inzwischen auf einem Instagram-Kanal @antifa.zeitenwechsel über die Aussteller. Halle gegen Rechts erklärt in einem Flyer: „Widerspruch ist nötig. […] Die extreme Rechte kann ihre Positionen heute so offen wie nie in der Geschichte der Bundesrepublik in die Welt schreien, posten und schreiben. Sobald sie auf Widerspruch und Analyse stößt, beklagt sie aber ,Cancel Culture‘. […] Die extreme Rechte will die offene und sachliche Debatte, als eine der Grundlagen der freien Gesellschaft, zerstören.“

In Halle wehren sich jetzt viele weitere. Darunter ist auch Jan Schenck, Initiator des Projekts „Verbrannte Orte“. Es dokumentiert in einer Fotoausstellung, wie die Orte nationalsozialistischer Bücherverbrennungen heute aussehen. An sechs Orten in Halle werden bis Mitte November ausgewählte Fotos gezeigt, die komplette Indoor-Ausstellung ist bis 27. November im Rahmen des Wir-Festivals im Ratshof zu sehen.

Jan Schenck erinnert daran, dass erst vor wenigen Tagen in Görlitz unbekannte Täter an einem Denkmal, an dem die Stadt in jedem Jahr an den Holocaust erinnert, Bücher verbrannt hätten. Ähnliches sei in Potsdam passiert. „Schauen wir dann noch in die USA und sehen dort in einigen Bundesstaaten die Listen von verbannter Literatur – diverse, antirassistische und vielfältige Werke –, dann sehen wir, wie wichtig der Widerstand gegen den Kulturkampf von Rechts ist.“ Die rechte Buchmesse sei der Versuch, einen wichtigen Vernetzungsort für extrem rechte Verleger*innen und deren Publikum zu schaffen, der dazu beitragen soll, rechtsextreme Ideologien zu verbreiten und zu normalisieren.

Dagen, die Vernetzerin der Neuen Rechten

Für die Dresdner Buchhändlerin Susanne Dagen ist die Organisation der „Seitenwechsel“-Messe dagegen nur folgerichtig. Seit Jahren vernetzt sie rechtskonservative Akteure mit Rechtsextremisten; hat sich dabei immer weiter radikalisiert.

Mit der Ehefrau des neurechten Vordenkers Kubitschek, Ellen Kositza, hat sie ein Gesprächsformat „Mit Rechten lesen“. Und immer wieder geht es um Raumnahme: 2022 saß Dagen auf einem der für Ehrengäste reservierten Plätze in der sächsischen Landesvertretung in Berlin in der ersten Reihe, als dort Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer und der umstrittene Schriftsteller Uwe Tellkamp diskutierten. 2023 instrumentalisierte sie Viktor Klemperer für eine Lesung aus seinem Buch über die Sprache des Dritten Reiches in Dresden, ausgerechnet auch in diesem Fall zum Jahrestag der Reichspogromnacht. Die Lesung fand trotz Protesten statt, ebenso wie eine weitere 2024 aus Erich Kästners Werk. „Rechte Selbstverharmlosung par excellence“, wie Michael Nattke vom Kulturbüro Sachsen kritisierte.

Kommt nach Halle!

Es lohnt sich, in diesen Tagen nach Halle zu kommen – aber nicht etwa wegen Dagens Messe. Sondern wegen der Vorbildwirkung des Wir-Festivals. Die Organisatoren erklären es zum „neuen Format für zivilgesellschaftliches Engagement, Nachmachen ausdrücklich erwünscht. Eine Geschichte des mutigen Gelingens in oft hoffnungslosen Zeiten“. Anders ausgedrückt: keinen Fußbreit der Neuen Rechten. Weder in Halle noch sonst irgendwo.

Wir-Festival: Für alle etwas dabei

Höhepunkt des Wir-Festivals ist das große Festival-Wochenende. Am 7. und 8. November gibt es ganztägig im Volkspark Halle Musik, Lesungen, Kabarett, Kinderprogramm und mehr. Mit dabei sind unter anderem Martina Hefter, Gilda Sahebi und Manja Präkels sowie verschiedene Mitglieder des Halleschen Dichterkreises. Am 9. November findet um 11 Uhr eine Matinee mit Anne Rabe und mir statt – wir diskutieren über „Moral und Unmut“. In der Einladung des Literaturhauses heißt es: „Gibt es einen Grund zum Verzweifeln? Nein, sagen zwei Autoren, die in Halle aufeinandertreffen. Und sie haben triftige Gründe, gute Argumente und mehr als lesenswerte Bücher im Gepäck.“

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Autor*innen

Matthias Meisner ist freier Journalist und Buchautor in Berlin und Tirana. Er schreibt als Gast-Autor für den Campact-Blog über Menschenrechte, Geflüchtete und die Bedrohung der Demokratie. Zuletzt veröffentlichte er 2025 im Dietz-Verlag Bonn gemeinsam mit Paul Starzmann das Buch "Mut zum Unmut – Eine Anleitung zur politischen Widerspenstigkeit". Infos unter www.meisnerwerk.de. Alle Beiträge

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