AfD Rechtsextremismus Soziale Gerechtigkeit WeAct Bildung Frieden Montagslächeln Feminismus Menschenrechte Demokratie

Über die Petitionsstarterinnen

Bildquelle: Liga für unbezahlte Arbeit

Franzi Helms und Jo Lücke haben die Petition „Diskriminierung stoppen – Care ins Grundgesetz!“ auf WeAct gestartet. Sie sind außerdem die Gründerinnen der „Liga für unbezahlte Arbeit e.V.“ (LUA) – keine Gewerkschaft, aber eine „Carewerkschaft“, so nennen sie ihren Verein.

WeAct: Ihr habt  zusammen eine „Carewerkschaft“ gegründet, um Menschen, die unbezahlte Care-Arbeit leisten, zu schützen. Wie seid ihr auf die Idee gekommen?

Franzi Helms: Die Idee entstand aus purer Frustration über eine Erkenntnis: Es gibt Gewerkschaften für fast alle Berufsgruppen, aber wer vertritt die weit über 20 Millionen Menschen, die täglich unbezahlt für andere sorgen? Ich bin seit sechs Jahren im Bereich Gleichstellung beruflich und politisch aktiv und habe gemerkt, dass individuelle Lösungen nicht reichen. Wenn eine Mutter nach 15 Jahren Care-Arbeit im Bewerbungsgespräch gefragt wird, ob sie nach der „Auszeit“ noch belastbar sei, dann ist das kein Einzelfall – das ist System.

Jo Lücke: Wir haben erkannt: Unbezahlt Care-Arbeitende brauchen eine kollektive Stimme, eine Organisation, die Macht aufbauen kann. Keine Initiative, die akademische Vorträge über Vereinbarkeit hält, sondern eine gewerkschaftsähnliche Struktur, die streiken, klagen und politischen Druck erzeugen will. Denn 117 Milliarden Stunden Sorgearbeit jährlich – fast doppelt so viel wie alle Erwerbsarbeit – das ist eine riesige Basis, die nur organisiert werden muss. Das macht jetzt die Liga für unbezahlte Arbeit.

Ihr sprecht oft davon, dass Care-Arbeit systemrelevant und dennoch kaum sichtbar ist. Was macht sie unsichtbar?

Franzi Helms: Care-Arbeit ist unsichtbar, weil sie als „natürlich“ gilt – besonders für Frauen. Niemand fragt: „Wer hat dir beigebracht, ein krankes Kind zu trösten?“ Es wird einfach erwartet. Gleichzeitig findet das Kümmern meist im Privaten statt, hinter verschlossenen Türen, ohne Kolleg*innen, ohne Betriebsrat, ohne Tarifvertrag.

Jo Lücke: Strukturell wird sie unsichtbar gemacht durch eine Infrastruktur, die sie nicht mitdenkt: Keine Wickelräume in öffentlichen Gebäuden, keine Kinderbetreuung bei politischen Veranstaltungen, Kitas mit Schließzeiten, die nicht zu Lohnarbeitszeiten passen. Für pflegende Angehörige fehlen qualitativ hochwertige Entlastungsangebote, die ihnen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen würden. Unsere Städte sind für Autos gebaut, nicht für Kinderwagen, Rollatoren oder Menschen, die langsamer gehen als ein gesunder Durchschnittsmann.

Ökonomisch bleibt Care-Arbeit ebenfalls verborgen, weil sie nicht im Bruttoinlandsprodukt auftaucht. 1,2 Billionen Euro wären die Care-Arbeitsstunden bei einer durchschnittlichen Bezahlung jährlich wert – aber diese Subvention taucht in keiner volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung auf. Dabei würde ohne Care-Arbeit buchstäblich alles zusammenbrechen. Corona hat das kurz sichtbar gemacht. Danach war es wieder vergessen.

Bei welchen politischen Debatten der letzten Zeit hat sich die Abwertung von Care-Arbeit am deutlichsten gezeigt?

Jo Lücke: Am brutalsten ist aus unserer Sicht die noch andauernde Debatte um die Abschaffung des 8-Stunden-Tages. Da wird ernsthaft diskutiert, dass Menschen 10, 12 Stunden am Tag im Job arbeiten sollen – aber wer kümmert sich dann um die Kinder? Wer pflegt die Angehörigen? Man kann ja nicht schon am Vortag wickeln, Medikamente geben oder füttern. Care-Arbeit braucht jeden Tag Zeit. Die Antwort der Politik: Das regeln die Familien schon irgendwie.

Franzi Helms: Genauso brutal ist der Umgang mit der sogenannten „Mütterrente“. Diese Rente für Erziehungszeiten gilt immer noch als optional, als Geschenk, das man auch wieder kürzen kann. Dabei ist das eine minimale Anerkennung von Jahren harter, gesellschaftlich notwendiger Arbeit. Aber wenn gespart werden muss, ist sie das Erste, was zur Disposition steht. Erwerbsarbeit ist heilig, unbezahlte Care-Arbeit ist Verhandlungsmasse. Fast so, als könnte eine Gesellschaft ohne Fürsorge funktionieren.

Das Problem ist, dass es aktuell keine gute juristische Grundlage gibt, um zu sagen: Care ist wichtig, Kürzen bei Care ist nicht okay. Durch eine Grundgesetzänderung machen wir Care-Arbeit überhaupt erst politisch verhandelbar. Dann können wir vor Gericht ziehen und sagen: Diese Politik verletzt die Verfassung, weil sie Menschen wegen ihrer Fürsorgeverantwortung benachteiligt.

Was wäre – ganz utopisch gedacht – die beste Veränderung, die ein Schutz von Care-Arbeit im Grundgesetz auslösen könnte?

Franzi Helms: Die beste Veränderung wäre der Paradigmenwechsel: Care-Arbeit würde endlich als das anerkannt, was sie ist – gesellschaftlich notwendige Arbeit, die genauso wertvoll ist, wie Erwerbsarbeit.

Konkret stellen wir uns vor: Eine 32-Stunden-Normalarbeitszeit, damit alle Menschen Zeit für Care haben – nicht nur Frauen. Kostenfreie, hochwertige Sorge-Infrastruktur von der Kita bis zur Pflege. Flexible Arbeitsmodelle als Rechtsanspruch, nicht als Privileg. Und vor allem: Alle politischen Entscheidungen bedenken Sorge-Arbeit mit.

Jo Lücke: Man stelle sich vor: Bei jedem Gesetz müsste geprüft werden – benachteiligt das Menschen mit Fürsorgeverantwortung? Stadtplanung müsste die Bedürfnisse der Menschen mit Care-Verantwortung berücksichtigen. Arbeitszeiten könnten verfassungsrechtlich hinterfragt werden. Kinderbetreuung bei öffentlichen Veranstaltungen wäre normal, nicht Bonus.

Das Schönste wäre: Niemand müsste mehr massive Nachteile in Kauf nehmen, wenn er oder sie Care-Verantwortung übernimmt. Das wäre ein Riesenschritt für die Gleichstellung und die Verteilung der Care-Arbeit insgesamt. Auch wenn es einige Jahre dauern wird, bis es so weit ist: Es wird sich lohnen.

Gab es einen Moment in eurem eigenen Leben, an dem euch klar wurde: Care-Arbeit ist politisch?

Jo Lücke: Die Corona-Zeit hat für mich persönlich überdeutliche Klarheit gebracht. Ich hatte einen Säugling und ein Kleinkind, die Kitas waren geschlossen, Homeoffice sollte trotzdem funktionieren. Plötzlich wurde von Eltern – faktisch vor allem von Müttern – erwartet, dass sie Vollzeit arbeiten UND Vollzeit betreuen.

Ich habe nachts gearbeitet, meine Texte geschrieben und Vorträge vorbereitet. Und alle taten so, als wäre das ganz normal. Aber sich um sehr kleine Kinder zu kümmern, bedeutet 96-Stunden-Wochen, ohne Wochenende, Urlaub und in ständiger Bereitschaft. Das kann man nicht mal eben nebenbei machen.

Das Perfide war: Kurzzeitig wurde das sogar anerkannt. Es gab mehr Kinderkrankentage und Entschädigungen für Betreuungsausfall. Die Politik hatte verstanden: Care und Vollzeit ist unvereinbar. Aber kaum war Corona nicht mehr präsent, war auch die Anerkennung wieder weg. Zurück zur Normalität – Care-Arbeit ist wieder Privatsache.

Denn Care-Arbeitende haben keine Lobby. Wir sind weit über 20 Millionen Menschen, aber politisch kommen wir kaum vor. Dazu kommt, dass kurzfristiges politisches Denken der Care-Krise nichts entgegenzusetzen hat. Der demografische Wandel kommt, immer mehr Menschen brauchen Pflege. Aber statt jetzt die Strukturen zu schaffen, werden die Entscheidungen aufgeschoben und niemand will Verantwortung übernehmen.

Franzi Helms: Corona hat sichtbar gemacht: Care-Arbeit ist zentral für das Funktionieren der Gesellschaft. Aber behandelt wird sie immer noch wie ein Hobby. Genau deshalb brauchen wir die Grundgesetzänderung – damit wir endlich eine rechtliche Handhabe haben, um zu sagen: Eltern, pflegende Angehörige und Fürsorgende sind verfassungsrechtlich geschützt, ihr könnt nicht einfach mit ihnen machen, was euch gerade am besten in den Kram passt.


Um Care-Arbeit endlich die nötige Anerkennung zu verschaffen, haben Jo Lücke und Franzi Helms eine Petition auf WeAct, der Petitionsplattform von Campact, gestartet. Sie fordern: Care ins Grundgesetz! Schließe Dich ihren Forderungen und bereits über 50.000 Unterstützer*innen an: 

Unterzeichne die Petition „Care ins Grundgesetz“
TEILEN

Autor*innen

WeAct ist die Petitionsplattform von Campact – mit uns könnt Ihr Politik bewegen. Im Campact-Blog berichtet das Team von WeAct regelmäßig über laufende Petitionen und aktuelle Erfolge. Alle Beiträge

Auch interessant

Bildung WeAct-Team Petition verhindert Kürzung bei Bildungsberatung Mehr erfahren
Feminismus WeAct-Team Erfolg: Keine Kürzungen beim Berliner Gewaltschutz Mehr erfahren
Globale Gesellschaft Katharina Draheim Hunger Games Mehr erfahren
Europa WeAct-Team Wie serbische Aktivist*innen einen Bergbaukonzern in die Knie zwingen Mehr erfahren
CDU Campact-Team Montagslächeln: Basta mit der Rente Mehr erfahren
Soziale Gerechtigkeit Maria Kruskop Wie Steuergerechtigkeit unsere Demokratie retten kann Mehr erfahren
Feminismus Vera Kuchler Warum das Recht auf Abtreibung in die Verfassung muss Mehr erfahren
Erinnern WeAct-Team „Der NSU ist Teil unserer Gegenwart“ Mehr erfahren
Soziale Gerechtigkeit Maria Kruskop Ein Herbst der Kälte: Politik gegen Arme Mehr erfahren
Soziales WeAct-Team Pflegegrad 1: Aufatmen für Hunderttausende Familien Mehr erfahren