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Deutsche Einheit? Nein danke!

3. Oktober – Tag der Deutschen Einheit. Aber passt dieses Versprechen der „Einheit“ überhaupt noch zu uns als Gesellschaft? Warum „Vielheit“ unsere Demokratie viel stärker macht.

Das Brandenburger Tor nach dem Fall der Mauer – Menschen feiern die Wiedervereinigung Deutschlands
Tag der Deutschen Einheit am Brandenburger Tor. Foto: IMAGO

Friedliche Revolution, Mauerfall, Wiedervereinigung, Wende. All diese Begriffe machen unterschiedliche Denk-, Bild- und Emotionsräume auf, die mit dem Tag der Deutschen Einheit verbunden sind. Vor allem aber haben sie eins gemeinsam: Sie haben überhaupt keinen Gegenwartsbezug. Natürlich hatten diese historischen Ereignisse einen Einfluss auf unser aller Leben – aber was bringt es uns heute noch, diesen Tag zu feiern? Stimmt das Versprechen des 3. Oktober denn überhaupt: Sind wir in den letzten Jahren als Gesellschaft mehr zu einer Einheit geworden? Ich glaube: Nein! Nicht nur die politische Landschaft hat sich ausdifferenziert. Auch unsere Gesellschaft ist deutlich mehrdimensionaler, vielschichtiger und komplizierter geworden. Die Zielvorgabe „Einheit“ klingt, angesichts der Gegenwart und ihrer gesellschaftlichen Herausforderungen, anachronistisch und unterkomplex: Es soll so werden, wie es niemals war. Nein danke!

Tag der Deutschen Vielheit

Wäre es darum nicht eigentlich viel passender, wenn wir den Tag der Deutschen Vielheit feiern würden? Come as you are! Wäre ein Bekenntnis zur Vielfalt nicht nur zeitgemäßer, nicht nur inklusiver, sondern auch produktiver für uns alle? Denn in der Welt von heute braucht es jede Perspektive, die wir bekommen können, um in ihr zu bestehen. Wir benötigen die Schwarmintelligenz und die Kreativität der Vielen, wenn wir gegen Klimawandel, Krieg, Pandemie, Inflation & Co ankommen wollen. Dabei können wir es uns schlichtweg nicht leisten, Teile unserer Gesellschaft nicht in die Lösungsfindung einzubeziehen. Wir brauchen also nicht nur die Anerkennung unserer Vielheit, sondern ganz bewusst neugestaltete, inklusive Politik- und Demokratie-Räume, in denen unser volles Potenzial zum Tragen kommt.

Bürger*innenräte – Triebkraft für Demokratie

Und siehe da: Genau solche politischen Räume der Vielheit entstehen gerade. Räume, in denen die Unterschiedlichkeit als Triebkraft für Demokratie nutzbar gemacht wird. In Deutschland nennt man sie Bürger*innenräte. Auf kommunaler, Landes- und Bundesebene und in der ganzen Welt beraten zusammengesetzte Vielheits-Gruppen die Probleme unserer Zeit und geben am Schluss Politikempfehlungen heraus. Das Besondere an ihnen: Die Teilnehmer*innen werden zufällig aus dem Melderegister gezogen. Am Schluss des Verfahrens repräsentiert die Gruppe der via Los gezogenen Bürger*innen die Grundgesamtheit in der Kommune, Stadt, Land oder Bund ziemlich genau. Es wird also ein Mini-Abbild der Vielheit unserer Gesellschaft ausgelost. Für Deutschland könnte das dann so aussehen: Ein junger türkischstämmiger Handwerker aus der Pfalz sitzt dann neben einer Arbeitssuchenden aus Hamburg – die wiederum neben einem Rentner aus Rosenheim und dieser neben einer Juristin aus einem kleinen Dorf aus der Nähe von Jena. In diesen demokratische Krafträumen, werden im ersten Schritt die Verbindungs- und Verknüpfungsfähigkeiten der unterschiedlichen Teilnehmer*innen gefördert, um im nächsten Schritt konkrete politische Lösungsvorschläge zu erarbeiten. So werden durch vertiefte Kommunikation die Fähigkeiten möglichst aller teilnehmenden Personen erschlossen. Diese Zufalls-Gremien treffen sich online und analog über einen bestimmten Zeitraum hinweg. Alle Unkosten werden erstattet. Am Schluss werden Handlungsempfehlungen an die Politik überreicht.

Auch bei uns gibt es beim Thema LGBTQIA+ einiges zu tun – lies hier den Beitrag.

Im erzkatholischen Irland wurden auf Empfehlung von Bürger*innenräten ein liberales Abtreibungsrecht und die Ehe für alle eingeführt. Auf der britischen Kanalinsel Jersey hat sich das Parlament auf Empfehlung eines Bürger*innenrats in einer ersten Entscheidung für die aktive Sterbehilfe ausgesprochen. In Australien folgte die Regierung einem Nein eines dortigen Bürger*innenrates zu Import und Endlagerung von Atommüll aus der ganzen Welt.

Vor allem Klima-Bürger*innenräte gehen zur Zeit weltweit an den Start: Von Frankreich bis Berlin sollen losbasierte Vielheitsgruppen die Politik beraten, wie der Klimaerwärmung noch zu händeln ist. Seit dem ersten bundesweiten Modellprojekt von Mehr Demokratie im Jahr 2019 vergeht in Deutschland kaum eine Woche, in der kein neuer Bürger*innenrat in einer Kommune oder auf Länderebene angekündigt wird. Die Liste der Bürger*innenräte, die in Deutschland in den letzten zwei Jahren aus dem Boden sprießen, ist schier unglaublich. Trotz Corona gingen in den Jahren 2020 bis 2022 54 Bürger*innenräte an den Start.

Selbst in den Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung haben es Bürger*innenräte geschafft. Hier heißt es: „Wir werden Bürgerräte zu konkreten Fragestellungen durch den Bundestag einsetzen und organisieren.“  Und tatsächlich wurde schon ein Aufbaustab für Bürger*innenräte vom Bundestag eingerichtet.

In der Vielheit liegt die Kraft

Noch bleibt die Umsetzung der Bürger*innen-Empfehlungen eine große Herausforderung. Nur weil ein Bürger*innenrat etwas beschließt, muss die Politik noch lange nicht handeln. Der Umgang mit Bürger*innenrats- Ergebnissen und ihr Weg in die institutionelle Entscheidungsfindung braucht ein geregeltes Verfahren. Darum sind Bürger*innenräte – wenn auch das demokratische Super-Tool der Stunde – nicht der Weisheit letzter Schluss, um unsere Demokratie wieder lebendiger zu machen. Aber sie sind ein guter Anfang, der auf die Ankerkennung unserer Vielfalt aufbaut und sie für die Demokratie kanalisiert: Erst aus der Vielheit ziehen Bürger*innenräte ihre Kraft.

Rückmeldungen, Feedback und Anmerkungen lesen wir gerne hier: blog@campact.de

Vor allem sind Bürger*innenräte Politikräume, die nicht (nur) einer Gegeneinander-Logik folgen, die die repräsentative Demokratie oft heimsucht und durch Polarisierung lähmt. Indem sie verschiedenste Menschen und Lebensrealitäten an einen Tisch bringen, um Lösungen für ein gemeinsames Problem zu formulieren, aktivieren sie die Suche nach dem Gemeinsamen. In genau diesem Sinne ist es jetzt Zeit, dem Begriff der Einheit die Bedeutungsebene der Vielfalt hinzuzufügen. Lasst uns die Demokratie in diese Richtung weiterdenken! Es wird sich lohnen!

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Autor*innen

Anselm Renn ist Kommunikations- und Politikwissenschaftler. Er ist Bundesvorstand von Mehr Demokratie e.V. und setzt sich seit Jahren als Pressesprecher und Campaigner für stärkeren Bürger:inneneinfluss in der Politik auf allen Ebenen ein. Im Campact-Blog schreibt er zu den Themen Direkte Demokratie und Volksentscheide. Alle Beiträge

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