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„Kommt mit in die Zukunft“
Kamala Harris will US-Präsidentin werden. Sie tritt nicht nur gegen Trump, sondern auch für progressive Politik an. Im Interview spricht der Politikwissenschaftler und USA-Experte Michael Werz vom Washingtoner Thinktank Center for American Progress über die Kandidatin und ihre Agenda.
Noch einmal vier Jahre Trump – das schien zuletzt gar kein unwahrscheinliches Ergebnis der US-Wahl im November. Wie ist die Stimmung jetzt, nachdem Kamala Harris statt Joe Biden von den Demokraten als Präsidentschaftskandidatin ins Rennen geschickt wird – und in den Umfragen teilweise vor Trump liegt?
Michael Werz: Die Stimmung hat sich in den vergangenen drei Wochen von Grund auf verändert. Die Demokratische Partei ist nicht wiederzuerkennen. Es gab vorher weit verbreitetes Phlegma und viel Frust – und zwar nicht, weil man Joe Biden nicht mochte, sondern gerade weil er sich in den vergangenen 40 Jahren so verdient um die Partei gemacht hat. Dass er sich mit Anfang 80 noch einmal zur Wahl stellen wollte, trotz der offenkundigen Probleme, hat für Unmut gesorgt.
Michael Werz arbeitet seit über 25 Jahren zu US-amerikanischer Politik und den transatlantischen Beziehungen. Der Politikwissenschaftler ist Senior Fellow beim Center for American Progress, einem progressiven Thinktank in Washington, DC. Außerdem ist er Senior Advisor für Nordamerika und multilaterale Angelegenheiten bei der Münchner Sicherheitskonferenz.
Hinzu kommt, dass durch die Überraschungskandidatur von Obama 2008, die Kandidatur von Hillary Clinton und dann die Biden-Kandidatur jetzt seit 16 Jahren der Weg versperrt ist für diejenigen, die sich warmlaufen für das Präsidentenamt. Es gibt einen großen Personal-Stau und auch einen Durst nach Erneuerung und darum war es wichtig, dass Joe Biden – der ja seine politische Karriere begonnen hat, als Elvis Presley noch auf der Bühne stand – beiseitegetreten ist. Das hat eine ungeheure Energie freigesetzt.
Gehen wir noch einmal einen Schritt zurück: Wer ist Kamala Harris eigentlich? Als Vizepräsidentin blieb sie ja bis vor Kurzem ziemlich im Hintergrund.
Kamala Harris hat Stärken und Schwächen. Zu ihren Schwächen gehört – zumindest bislang – dass sie noch nie eine richtige Wahl gewonnen hat. Sie war Staatsanwältin in Kalifornien. Und Staatsanwälte werden zwar gewählt in den USA, aber das ist im Prinzip ein innerparteiliches Verfahren. Das Gleiche gilt für ihren Senatssitz in Kalifornien. Als Demokratin oder Demokrat einen Senatssitz zu erringen, das gleicht eher der Aufstellung für die Landesliste der Grünen in Baden-Württemberg als einem Wahlkampf. Sie hat sich nur einmal der größeren Öffentlichkeit gestellt, nämlich in den Vorwahlen der Präsidentschaftswahlen 2020. Da hat sie eine echte Bauchlandung hingelegt, obwohl ihre Kampagne gut finanziert war.
Es gab daher Bedenken, wie gut sie sich landesweit positionieren kann, auch weil sie ein Produkt der bürgerlichen Westküste ist. Das bietet eine Angriffsfläche für die Republikaner. Bisher ist allerdings eher das Gegenteil eingetreten. Die ersten Umfragen zeigen, dass sie das Defizit von Joe Biden in den meisten Wechselwähler-Staaten relativ schnell hat wettmachen können. Außerdem konnte sie deutliche Zugewinne verbuchen – zum Teil im zweistelligen Bereich – unter jungen Leuten, unter Latinos, unter schwarzen Männern. Es scheint so zu sein, dass das Alter der Kandidatin, die Tatsache, dass sie eine Frau ist, ihre Familienbiografie mit den Eltern aus der Karibik und Sri Lanka, sie attraktiv machen für die über 40 Prozent Minderheiten in den USA. Es wird sich zeigen, ob sich das in den verbleibenden zweieinhalb Monaten bis zur Wahl hält.
Stichwort Wechselwähler:innen: Wen muss Kamala Harris jetzt unbedingt für sich gewinnen, damit sie bei der Wahl eine Chance gegen Donald Trump hat?
Die Wechselwähler-Staaten, die im Wahlkampf so wichtig sind, sind in ihrer demografischen und sozialen Zusammensetzung sehr unterschiedlich. Georgia und North Carolina haben eine große afroamerikanische Bevölkerung. Nevada, Arizona und New Mexico sind sehr stark von Latinos geprägt. In Pennsylvania, Wisconsin und Michigan im mittleren Westen leben viele Weiße, die aus der Mittelschicht kommen, aber auch aus den unteren Mittelschichten und der Arbeiterschaft. In diesem Wählersegment gab es die größten Bewegungen hin zu Trump und weg von Obama. Für Kamala Harris wird es gerade hier nicht leicht, weil sie zu diesen Regionen des Landes wenig persönlichen Bezug hat.
Doch diese Wählerinnen und Wähler aus der Arbeiterschaft sind nicht die Mehrheit. Die Mehrheit ist die konservative weiße Mittelschicht, von der viele in Vororten der großen Städte leben und die jetzt zweimal Donald Trump gewählt haben. Da ist die Hoffnung, dass Harris insbesondere konservative Mittelschichtsfrauen ansprechen kann, denen die Polarisierung der republikanischen Partei missfällt. Vor allem die frauenfeindlichen Äußerungen von J.D. Vance, dem Vizepräsidentschafts-Kandidaten, der neulich sagte, kinderlose Frauen hätten in der Politik nichts zu suchen, weil sie kein Interesse an der Zukunft des Landes hätten. Das hat sehr viel Unruhe verursacht.
Und hier kann Kamala Harris auch argumentieren, dass die rabiaten Abtreibungsgegner innerhalb der republikanischen Partei mit Hilfe des konservativ besetzten Obersten Gerichtshofes Frauenrechte eingeschränkt haben. Sie kann betonen, dass hier soziale Härten produziert werden, mit Abtreibungsfristen, die zum Teil so kurz sind, dass Frauen noch nicht einmal von ihrer eigenen Schwangerschaft wissen. Und wo Ärzte, die Abtreibungen vornehmen, unter Umständen für zehn Jahre ins Gefängnis müssen. Hier hat sie sich bereits stark positioniert, weil das eines der wichtigen und vielleicht auch wahlentscheidenden Themen sein wird auf der demokratischen Seite.
Anhand welcher weiteren Themen wird sich die Wahl entscheiden im November?
Es sind drei großen Themen: Frauenrechte und Abtreibung, dann das Thema Migration – das ist für die Demokraten ähnlich wie für progressive Parteien in Europa sehr schwer zu navigieren. Das ist ein Minenfeld der öffentlichen Meinung. Und auch in den USA nimmt die Bedeutung des Themas proportional zu für Wählerinnen und Wähler, je weiter sie von der Grenze im Süden entfernt sind; also das typische Phänomen von Rassismus ohne Ausländer.
Das dritte große Thema ist die Ökonomie. Wir haben im Moment eine stabile Situation, die Wachstumsraten lagen im letzten Quartal bei 2,8 Prozent. Das ist deutlich besser als in Europa, und es gibt mehr oder weniger Vollbeschäftigung. Die Inflation geht in Richtung 2,5 Prozent. Doch obwohl die Situation gut ist, nehmen die Leute das komplette Gegenteil wahr. Donald Trump und sein Vize J.D. Vance versuchen, das mit der Idee, dass Amerika sich der Apokalypse nähert und nur noch durch einen radikalen gesellschaftlichen und institutionellen Umbruch gerettet werden kann, für sich zu nutzen. Harris muss dagegenhalten und zeigen, dass die Wachstums-Investitionen der Biden-Administrationen erfolgreich waren. Diese Investitionen hatten ein Gesamtvolumen von etwa dem neunfachen des deutschen Bundeshaushaltes. Ob sie zeigen kann, dass dies im Interesse der Amerikanerinnen und Amerikaner war, wird sich zeigen.
Sie haben umrissen, was von Kamala Harris zum Thema Ökonomie und zum Thema Abtreibung zu erwarten ist. Wird sie darüber hinaus eine fortschrittliche Agenda verfolgen?
Es wird eine Reihe von Anpassungen geben, die auch notwendig sind. Mit der Wahl des Vizepräsidentschafts-Kandidaten Tim Walz hat Harris eine interessante Entscheidung getroffen. Walz hat als Kongressabgeordneter einen sehr konservativen Wahlkreis gewinnen können und als Gouverneur fortschrittliche Politik gemacht. Er hat sich zum Beispiel für eine bessere universelle Gesundheitsversicherung starkgemacht und den Verkauf von automatischen Schnellfeuerwaffen beschränkt. Inzwischen gehört er eher zum progressiven Spektrum der Partei. Das Interessante daran ist, dass die Kampagne von Harris sich nicht ausschließlich auf die politische Mitte konzentriert, sondern sagt: Wir wollen die Demokratischen Partei – die ja unter Clinton und Obama eine der CDU vergleichbare Politik gemacht hat – in eine sozialliberale und sozialdemokratische Richtung bewegen.
Und das bedeutet auch, dass sie eine fortschrittliche Position in der Außenpolitik beziehen wird. Es ist eine Neueinschätzung des Palästina-Konfliktes erwartbar, denn sie hat sich schon im März öffentlich geäußert – früher als Biden und viele andere – und für eine umfassende Friedenslösung gesprochen. In internen Gesprächen hat sie darauf hingewiesen, dass Menschenrechte auch für Palästinenser gelten müssen. Sie wird sich hier weiterhin von der bisherigen Israel-Politik abgrenzen, weil es für die Demokraten auch auf die Mobilisierung unter jüngeren Leuten und Minderheiten ankommen wird, für die dieses Thema besonders wichtig ist.
Wie wird sich Harris zum Thema Klimaschutz positionieren?
Nach den massiven Investitionen des Inflation Reduction Acts, mit dem die Regierung Biden über 360 Milliarden Dollar allein für erneuerbare Energien, Elektromobilität und moderne Stromnetze vorgesehen hat, geht die Entwicklung der USA unter einer demokratischen Regierung klar in Richtung erneuerbare Energien. Zum ersten Mal seit langer Zeit sind wir wieder auf dem Weg, bis 2030 eine Halbierung der CO₂-Emissionen schaffen zu können. Das war vor dem Inflation Reduction Act nicht der Fall. Dort wird sich Harris ganz stark an die von Joe Biden favorisierte Politik anlehnen.
Man muss auch daran erinnern, dass Harris aus Kalifornien kommt – das ist einer der fortschrittlichsten Bundesstaaten der USA. Was die Klima-Standards angeht, ist Kalifornien vergleichbar mit europäischen Nationen, und in einigen Bereichen ist es Europa sogar noch voraus. Es ist klar, dass es in den USA mit vier Prozent der Weltbevölkerung und 15 Prozent des fossilen Energieverbrauchs nicht so weitergehen kann. Aktuell bewegen wir uns mit einer hohen Geschwindigkeit in die richtige Richtung, aber das steht oder fällt mit der Wahl am 5. November.
Joe Biden ist vor vier Jahren angetreten mit dem Versprechen, die USA wieder zu einen. Das ist offenbar nicht gelungen – die amerikanische Gesellschaft ist nach wie vor zutiefst gespalten. Gibt es eine Chance für Harris, daran etwas zu ändern, sollte sie Präsidentin werden?
Harris hat – in der bisher kurzen Zeit, in der wir das beobachten konnten – eine neue Strategie gefahren. Sie versuchte, viel gute Laune zu verbreiten, sich nicht auf Gefechte mit Donald Trump oder J.D. Vance einzulassen, sondern zu signalisieren, dieses Land hat eine Zukunft. Joe Bidens Vorhaben, die USA wieder zu einen, war sehr ambitioniert und ist gescheitert, weil ein Großteil der bürgerlichen Mittelschicht sich in das Trump-Lager begeben hat.
Solange große Teile der gebildeten und wohlhabenden Mittelschicht in einer Parallelwelt leben, in der sie glauben, das Leben in den USA sei so unerträglich und so bedroht, dass sie Donald Trump wählen müssen – einen Mann, dessen Programm de facto die Zerstörung demokratischer Institutionen in den USA beinhaltet – werden alle Versuche auf eine Einigung fehlschlagen. Harris wäre gut beraten, den Leuten nicht hinterherzulaufen, sondern zu sagen: Wollt ihr mitkommen in die Zukunft des Landes? Das Land wird anders aussehen, wir werden Mitte der 2040er Jahre keine weiße Bevölkerungsmehrheit mehr haben. Aber Amerika kann sich nur treu bleiben, wenn es sich beständig verändert. Kommt mit auf diese Reise, wir kriegen das hin. Oder wollt ihr wirklich zurück ins 19. Jahrhundert und dort nach Antworten suchen auf Fragen, die sich im 21. Jahrhundert stellen?
Wie zuversichtlich sind Sie für die Wahl im November?
Zuversichtlicher als noch vor drei Wochen.