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Demokratie sezieren!

US-Vizepräsident Vance wirft Europa vor, seine Demokratien verkommen zu lassen. Von welchem Standpunkt aus er das sagt und wo er sich irrt, analysiert Anselm Renn mit einem scharfen Blick auf die Definition von Demokratie.

"Demokratie gibts nicht umsonst" steht auf dem Papp-Schild einer Protestantin vor der 61. Münchener Sicherheitskonferenz.
Die Botschaft auf dem Schild dieser Demonstrantin vor dem Hotel Bayerischer Hof in München kann man auf zwei Weisen verstehen. Zum einen "gibt's Demokratie nicht umsonst", also es gibt sie mit einem Zweck. Außerdem kostet sie uns etwas: nämlich eine stete Investition unserer selbst und unseres Willens, zusammen das Beste für alle zu wollen. Foto: IMAGO / Andreas Stroh

„There is a new sheriff in town“, leitete der Vizepräsident der USA, J.D. Vance, in seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz seinen verbalen Affront gegen die europäischen Demokratien ein. Unter dem neuen Sheriff (Trump) werde nun alles anders und natürlich demokratischer. Die Europäer sollten besser schnell als langsam der trumpistischen Auslegung von Demokratie folgen, wenn sie weiterhin von ihm beschützt werden wollen.

Nach diesem Rant und in Anbetracht der kommenden Bundestagswahl am nächsten Sonntag scheint es mir an der Zeit, einen kurzen Demokratie-Reality-Check vorzunehmen. Es geht darum, noch einmal grundlegend zu werden: Was bedeutet Demokratie? Ich will den Begriff der Demokratie öffnen – ja, vielleicht sogar sezieren –, um zu begreifen, wie alt unsere Vorstellungen von Demokratie sind und was sie, neu gedacht, auch gegen Trump zu leisten imstande sind. 

Der Minimalkonsens: Demokratie als friedlicher Regierungswechsel

Seit ihrer Entstehung wird die Demokratie von Debatten begleitet, was sie genau ausmacht. Doch es gibt einen kleinsten gemeinsamen Nenner: In einer Demokratie kann eine Regierung ohne Blutvergießen abgesetzt werden. Damit lassen sich zwei grundlegende Regierungsformen unterscheiden: solche, in denen eine Regierung durch eine Abstimmung friedlich abgewählt werden kann, und solche, in denen das nicht möglich ist – wie in einer Autokratie (Herrschaft eines Einzelnen oder einer kleinen Elite) oder einer Monarchie (Herrschaft eines Einzelnen, oft erblich bedingt). Folgt man diesem Minimalprinzip, dann sind Deutschland und – wenn auch nur knapp – die USA Demokratien. Doch was bedeutet Demokratie darüber hinaus?

Die wörtliche Bedeutung und ihre Probleme

Demokratie bedeutet wörtlich „Volksherrschaft“. Doch das ist irreführend, denn nirgendwo herrscht tatsächlich das Volk. Niemand ist in einem modernen Staat vollständig souverän – auch (wahlberechtigte) Bürger:innen nicht. Tatsächlich üben immer die vom Volk eingesetzten Regierungen und ein mehr oder weniger großer Bürokratieapparat die eigentliche Regierungsgewalt aus.

Schnell wird klar: Der Begriff „Demokratie“ ist im wörtlichen Sinne irreführend. Er suggeriert etwas, das in modernen Flächenstaaten nicht umsetzbar ist. Die aus dem Wortsinn abgeleitete Erwartungshaltung, die wir alle wenigstens ein Stück weit in uns tragen, kann nur enttäuscht werden. Auch wenn uns intuitiv bewusst ist, dass nicht das gesamte Volk ständig alles entscheiden kann, bleibt die Vorstellung einer absoluten Volkssouveränität problematisch. 

Mehrheit, Souveränität und ihre Grenzen

Unter Demokratie verstehen wir die Praxis von regelmäßigen Wahlen und Abstimmungen durch rechtsgleiche Individuen, die damit Einfluss auf die Zusammensetzung der Regierung und das Regierungshandeln nehmen. Entscheidungen werden in der Regel per Mehrheitsbeschluss getroffen. Zwar gibt es Schutzmechanismen für Minderheiten, doch grundsätzlich bestimmt die Mehrheit die Richtung, wohin es geht – innerhalb des Rahmens der Verfassung.

Gehört man nicht zur Mehrheit, hat man kaum Einfluss auf die Entscheidungen – auch dann ist man nicht souverän. Die Regierung wechselt, und plötzlich bestimmen Menschen, die ich nicht gewählt habe, Gesetze, die ich nie gewollt habe. Doch ist die Mehrheit in unserer Demokratie dann souverän? Ja – aber nur bedingt. Selbst eine demokratisch gewählte Mehrheit kann nicht uneingeschränkt agieren: Koalitionspartner, Bundesrat, Verfassungsgericht oder internationales Recht setzen Einschränkungen.

Trotz dieser Realität hält sich in unseren Köpfen weiterhin eine Idealvorstellung von Demokratie: Das Volk, also wir, also ich, soll doch souverän, unabhängig und selbstbestimmt herrschen.

Demokratie als offenes System

Aber woher kommt diese Vorstellung? In vielen Philosophien – insbesondere im Westen – ist das politische Denken noch immer von einem monarchischen Weltbild geprägt: Die Vorstellung, dass es eine zentrale Autorität geben muss, die Kontrolle über den Verlauf der Dinge hat, ist tief in unserer Sprache und unserem Denken verwurzelt. Besonders deutlich wird dies auf der politischen Ebene, wenn Menschen charismatische Führer glorifizieren, weil sie sich nach klarer, starker Führung sehnen.

Bundestagswahl 2025: Vergleich der Parteien

Grafik: Jenny Harbauer/ Campact e.V.

Doch in einer Demokratie gibt es keine zentrale Autorität, die lenkt – auch das Volk selbst nicht. Dem gegenüber steht die demokratische Idee, dass sich demokratische Prozesse selbst tragen können. Demokratie beruht auf kollektiven Entscheidungen und Interaktionen, die sich aus den Beiträgen und Aushandlungen vieler Menschen und Institutionen entwickeln. Die Abwesenheit einer zentralen Steuerungseinheit ist für die Demokratie stilprägend: Der demokratische Prozess entwickelt sich innerhalb bestimmter Spielregeln (Verfassung) von selbst.

Das Missverständnis einer zentralen Autorität

Das Problem vieler politischer Systeme, insbesondere in autoritär geprägten Kulturen, ist, dass sie kein Vertrauen in diesen selbsttragenden demokratischen Prozess haben. Stattdessen glauben wir oft, dass eine zentrale Figur oder Entität notwendig ist, um Ordnung und Stabilität zu gewährleisten. Diese Denkweise geht weit über das Politische hinaus – sie beeinflusst, wie wir in vielen Lebensbereichen handeln. Das Bedürfnis nach Kontrolle und Autorität steht oft im Widerspruch zur demokratischen Idee, dass Prozesse auch ohne externe Steuerung ablaufen können.

Demokratie fordert uns heraus, diese fixierte Vorstellung von Autorität loszulassen und zu akzeptieren, dass Prozesse ohne zentrale Kontrolle funktionieren. Sie beruht darauf, dass die Interaktion zwischen Menschen und Institutionen – das Aushandeln, Diskutieren und Abstimmen – zu einem tragfähigen Ergebnis führt, das im besten Interesse aller liegt.

Trotz dieser Grundidee bleibt unsere Sprache statisch: „Das Parlament hat entschieden“ vermittelt nicht den Eindruck eines dynamischen, offenen Entscheidungsprozesses. Auch Begriffe wie „Souveränität“ und „Regierungsgewalt“ sollten neu durchdacht werden.

Demokratie als Prozess

Ein Sheriff entscheidet, die anderen folgen – das ist genau das Gegenteil von demokratischer Souveränität. Wenn wir Demokratie als „selbsttragenden Prozess“ verstehen, kann sie langfristig ohne autoritäre Eingriffe stabil bleiben. Aber nur, wenn ihre Rahmenbedingungen stimmen: Vertrauen, Dialog und Verantwortungsbewusstsein, daran sollten wir uns orientieren.

Demokratie ist nicht die Herrschaft einer einzelnen Entität, sondern das Zusammenspiel vieler Akteure, das sich immer wieder neu entwickelt. Sie ist kein fixer Zustand, sondern ein fortlaufender Prozess, der nur durch aktive Beteiligung lebendig bleibt. Und genau hier setzt ein neues, treffendes  Verständnis von Souveränität und Demokratie an: lebendige Systeme, inklusive Demokratien, die sich selbst tragen können, wenn sie die Bedingungen für selbstregulierende Prozesse schaffen.

Wir alle benötigen neue Fähigkeiten, um in dieser immer komplexer und schneller werdenden Welt zurechtzukommen – das steht fest. Doch welchen Weg wählen wir? Der einfache Weg führt zu mehr Kontrolle, mehr Abgrenzung und Abschottung: Eine*r entscheidet, die anderen folgen. Doch die Herausforderungen unserer Zeit lassen sich am besten demokratisch lösen – dann, wenn sich viele Menschen selbstwirksam fühlen und mit ihren Qualitäten einbringen können. Es geht darum, die Intelligenz der Vielen nutzbar zu machen. In gut gestalteten und begleiteten Diskurs- und Partizipationsprozessen kommen wir gemeinsam zu besseren, kreativeren und konkurrenzfähigeren Lösungen. 

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Autor*innen

Anselm Renn ist Kommunikations- und Politikwissenschaftler. Er ist Bundesvorstand von Mehr Demokratie e.V. und setzt sich seit Jahren als Pressesprecher und Campaigner für stärkeren Bürger:inneneinfluss in der Politik auf allen Ebenen ein. Im Campact-Blog schreibt er zu den Themen Direkte Demokratie und Volksentscheide. Alle Beiträge

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