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Ost-Tradition: Jugendweihe

Im Westen eher unbekannt, im Osten eines der wichtigsten Meilensteine des Erwachsenwerdens: Die Jugendweihe. Noch heute feiern jährlich Zehntausende Jugendliche ihren Eintritt in die Welt der Erwachsenen. So auch mein Neffe. Die Jugendweihe ist ein Ritus, der uns generationenübergreifend verbindet.

Jugendweihe in der DDR im Jahr 1966.
Jugendweihe in der DDR im Jahr 1966. Foto: IMAGO / Marco Bertram

Dieser Tage wird mein Neffe in die Reihen der Erwachsenen aufgenommen. Mit einem Ritual, das bereits ich, seine Eltern und auch seine Großeltern durchliefen – der Jugendweihe. Ich erinnere mich noch an meine Jugendweihe – ich habe zum ersten Mal eine Krawatte getragen. Aber weil ich so „rebellisch“ war, trug ich auch ein Nietenarmband. Gemeinsam mit meinen Klassenkamerad*innen wurde ich damals, mit 14 Jahren, in die Reihen der „Erwachsenen“ aufgenommen. 

Wer es schafft, schleicht sich weg

Noch heute läuft die Jugendweihe oft nach dem immer gleichen Muster ab. Monate vorher findet der „Vorbereitungsunterricht“ statt – Stunden, oft außerhalb der regulären Schulzeit, die vor allem den Klassenzusammenhalt stärken sollen. Außerdem wird der Einlauf geübt. Also wie genau man auf die Bühne geht, wenn die Klasse aufgerufen wird. Hat man es am Tag selbst auf die Bühne im proppenvollen örtlichen Kulturhaus geschafft, schaut man in die stolzen Gesichter der Eltern und aller Verwandten, die zum feierlichen Anlass nicht fehlen dürfen. Es gibt Musik oder die lokale Tanzgruppe führt etwas auf. Zuvor durfte man sich in der Regel eine Rede eines Landtagsabgeordneten oder der Bürgermeisterin anhören, die dann der Reihe nach die Hand schüttelt, Blumen und die Landesverfassung überreicht. Glückwunsch: Du, Entschuldigung, Sie sind jetzt erwachsen. 

Vorbereitungsunterricht

Wie die Vorbereitungsstunden aussehen, ist von Ort zu Ort, Veranstalter zu Veranstalter unterschiedlich. Es wird viel angeboten: Von Workshops über Freundschaft, Sexualität oder Sucht bis hin zu Ausflügen zur Feuerwehr, Teilnahme an Tanzkursen oder Gedenkstättenfahrten. Die Teilnahme ist freiwillig – wie auch die Jugendweihe generell. 

Das war’s dann auch schon mit Formalitäten. Danach gibt es meistens ein Essen mit der Familie, bei manchen sogar ein Familienfest. Die Jugendlichen erhalten in aller Regel Geldgeschenke – das erste eigene Geld. Wer es schafft, schleicht sich abends weg, trifft sich mit den anderen aus der Klasse und hat seinen ersten Alkoholabsturz – wie ein richtiger Erwachsener eben. Dieses Ritual habe ich auch durchgemacht, meinem Neffen steht es sehr bald bevor. Die Jugendweihe seiner Großeltern sah zwar ähnlich aus, aber doch anders. 

Die Jugendweihe ist älter als die DDR

Vor 70 Jahren, am 27. März 1955, fand in der DDR die erste offizielle Jugendweihe statt. 

Die Jugendweihe war in der DDR ein Instrument der sozialistischen Erziehung. Jugendliche sollten sich in einer feierlichen Zeremonie zur „sozialistischen Gemeinschaft“ bekennen, oft begleitet von Appellen zu Disziplin und Kollektivgeist. 

Der Ablauf: Vorbereitungsstunden, Rede, Bühne, Blume, Buch und anschließend Umtrunk im Familienkreis; das war schon damals so. Nur die Inhalte waren zu DDR-Zeiten andere als heute. Großeltern, die selbst in den 70er oder 80er Jahren im Sonntagsanzug oder im eleganten Kleid auf der Bühne standen, erleben diesen Moment nun mit ihren Enkeln – nicht als Pflichtprogramm, sondern als selbstverständlichen Teil des Familienlebens. Diese Kontinuität ist bemerkenswert.

Ursprünglich hat die Jugendweihe eine deutlich längere Tradition in Deutschland. Als humanistischer, vor allem atheistischer Gegenpol zur Konfirmation, wurde die Jugendweihe Mitte des 19. Jahrhunderts erstmals abgehalten. Die aufkommende Arbeiterbewegung übernahm diesen Ritus. Die Jugendweihe trägt also schon über 150 Jahre Geschichte mit sich. Geblieben ist das Bedürfnis, einen wichtigen Lebensabschnitt zu markieren: den Übergang von der Kindheit in die Jugend, von der Schule in eine Phase mit mehr Eigenverantwortung. 

Schulabschlüsse sind heute oft gestreckt, der Berufseinstieg unsicher. In einer Zeit, in der klare Rituale des Erwachsenwerdens seltener werden, bietet die Jugendweihe etwas, das viele junge Menschen und ihre Familien schätzen: einen festen Punkt, an dem man gemeinsam innehalten und feiern kann.  

Es ist der große Tag für junge Erwachsene

Viele Jugendliche erleben ihre Jugendweihe heute als einen Tag, an dem sie im Mittelpunkt stehen – ähnlich wie bei einer Konfirmation oder einer großen Geburtstagsfeier. Doch anders als im kirchlichen Rahmen geht es nicht um Glauben oder Spiritualität, sondern um eine Art säkulare Selbstvergewisserung: Jetzt beginnt ein neuer Lebensabschnitt. Die Geschenke, die Reden, die gemeinsamen Fotos – all das unterstreicht, dass dieser Tag etwas Besonderes ist. Und vielleicht liegt gerade darin die Stärke der Jugendweihe: Sie bietet einen Rahmen, ohne dogmatisch zu sein. Sie ist feierlich, aber nicht steif. 

Die Jugendweihe ist mehr als nur eine lokale Besonderheit. Sie ist ein Beispiel dafür, wie sich kulturelle Prägungen auch dann fortsetzen, wenn sich die politischen Systeme ändern. Im Westen ist das Ritual bis heute weitgehend unbekannt. Doch in Ostdeutschland gehört es für viele einfach dazu. 

Jugendweihe bleibt politisch – auch ohne Sozialismus

Interessant ist dabei, dass die Jugendweihe trotz allem immer noch politisch aufgeladen ist. Denn in der Feierstunde wird das Bekenntnis zu Staat und Demokratie von den jungen Menschen gefordert – wenngleich sie das nicht mehr mit einem „Ja, das geloben wir“ quittieren müssen. Nicht ohne Grund halten Politiker*innen die Jugendweihreden und nicht ohne Grund wird die Landesverfassung überreicht. Trotz ihres Überdauerns ist die Jugendweihe also nicht unpolitisch geworden – im Gegenteil. Das wäre aber auch gegen ihre Tradition von vor 150 Jahren.  

Zudem ist es aber auch ein Anlass, die Familie zusammenzubringen, als Gelegenheit, den Jugendlichen Wertschätzung zu zeigen, als Moment, in dem man gemeinsam auf das bisher Erreichte zurückblickt – und auf das, was noch kommt.

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Autor*innen

Danny Schmidt ist seit 2019 Campaigner bei Campact. Als Teil des Kampagnen-Teams gegen Rechts setzt er sich vor allem gegen das Erstarken rechter Strukturen, Bewegungen und Parteien ein. Als Nachwendekind aus der ostdeutschen Provinz lässt ihn die Frage der ostdeutschen Identitäten nicht los – für den Campact-Blog schreibt Danny Schmidt für, über und aus Ostdeutschland. Alle Beiträge

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