Erinnern Rechtsextremismus WeAct
Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter: Der rechtsterroristische NSU hat sie zwischen 2000 und 2007 ermordet; neun von ihnen aus rassistischen Motiven.
Dass die Terrorzelle so lange unentdeckt blieb, lag an schweren Versäumnissen und rassistischen Strukturen in den Sicherheitsbehörden. Polizei, Justiz und Verfassungsschutz ermittelten jahrelang gegen die Angehörigen der Opfer, obwohl ein rechtsextremes Tatmotiv mehr als naheliegend war. Viele sind sogar überzeugt: Der Verfassungsschutz muss bereits während der Mordserie vom NSU gewusst haben.
Das staatliche Totalversagen gelangte am 4. November 2011 an die Öffentlichkeit. An diesem Tag bekannte sich der NSU zu seinen Morden, Sprengstoffanschlägen und Banküberfällen. Zwei der Täter wurden noch am selben Tag tot aufgefunden, vermutlich starben sie durch Suizid. Beate Zschäpe, eine zentrale Mittäterin, erhielt 2018 lebenslange Haft. Der Prozess in München gegen Zschäpe und vier weitere Angeklagte war lange Zeit der einzige Prozess im NSU-Komplex.
Nichts aus dem Versagen gelernt?
Im Sommer 2025 folgte der nächste Skandal: Beate Zschäpe, die weder Reue zeigte noch zur Aufklärung beitrug, wird auf eigenen Wunsch in ein Nazi-Aussteigerprogramm aufgenommen. Hinterbliebene der NSU-Mordopfer sind entsetzt. Sie sind sich sicher: Es ist ein taktisches Manöver. Die zehnfache Mörderin will ihre Haftstrafe verkürzen.
Um das zu verhindern, starteten Semiya Şimşek, Mandy und Michalina Boulgarides und Gamze Kubaşık eine Petition auf WeAct, der Petitionsplattform von Campact. Sie fordern den Ausschluss von Beate Zschäpe aus dem Nazi-Aussteigerprogramm „Exit“, solange sie ihr Wissen über den NSU nicht vollständig preisgibt. Statt die Täter*innen weiterhin zu schützen, muss der Staat endlich die Hinterbliebenen unterstützen und den NSU-Komplex vollständig aufklären. Im Gespräch betonen die Petentinnen unmissverständlich, was ihrer Meinung nach geschehen muss.
Heute ist der Jahrestag der Selbstenttarnung des NSU. In zwei Tagen beginnt der zweite NSU-Prozess in Dresden. Welche Bedeutung haben diese Tage für euch?
Diese Tage sind für uns eine Mischung aus Hoffnung und Schmerz. Der 4. November markiert einen Tag, der das erschreckende Ausmaß von Hass, Gewalt, Rassismus hinter der Ermordung unserer Väter eindrücklich in Erinnerung ruft. Dieses Datum reaktiviert auf schmerzhafte Weise die damit verbundenen Traumata. Der Tag der Selbstenttarnung ist aber auch ein Mahnmal für das willentliche staatliche Versagen. Wir sind froh, dass es nach all den Jahren überhaupt zu einer weiteren Anklage gekommen ist und nun hoffentlich endlich weitere Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen werden.
Gleichzeitig sind wir enttäuscht, insbesondere, wenn wir daran denken, dass es bereits im ersten NSU-Prozess am Oberlandesgericht München zahlreiche Beweise für die Mittäterschaft von Susann Eminger gab, diese aber nicht angeklagt wurde. Wir erwarten vom neuen Prozess gegen sie in Dresden, dass endlich weitere Netzwerke und Verantwortliche öffentlich werden.
Susann Eminger war eine enge Freundin von Beate Zschäpe. Sie leistete Fahrdienste für den NSU und unterstützte Zschäpe, als diese untertauchen musste. Es ist erst der zweite Strafprozess gegen eine Person aus dem Netzwerk des NSU seit dem Münchner Urteil 2018.
Seit Jahrzehnten kämpft ihr für eine vollständige Aufklärung und mehr staatliche Unterstützung. Woran hakt es aus Eurer Sicht?
Insgesamt bestehen Defizite in der politischen Aufklärungsarbeit, im Engagement und Willen dies voranzutreiben. Wir erleben seit mehr als zwei Jahrzehnten Behördenversagen und mangelnde Transparenz. Vieles wurde vertuscht, Akten wurden geschreddert, Verantwortlichkeiten abgeschoben. Die Behörden schützen in erster Linie sich selbst. Es findet eine beabsichtigte Wissensverweigerung gegenüber den Hinterbliebenen statt.
Wir haben das Gefühl, dass man uns Angehörigen zwar zuhört, aber nicht wirklich handelt. Es ist leichter, von Einzelfällen zu sprechen, als sich mit den tiefen Strukturen von Rassismus in Staat und Gesellschaft auseinanderzusetzen. Wir kritisieren nach wie vor, dass Opfer bis heute kaum staatliche Unterstützung erhalten.
Am 17. Oktober habt ihr Eure Petition an Abgeordnete der Fraktionen von SPD, Linke und Grüne übergeben. Wie habt ihr die Übergabe empfunden, insbesondere die Reaktionen der Abgeordneten?
Die Übergabe war ein notwendiges Signal nach vielen Absagen. Es war ein sehr emotionaler Moment. Wir haben diese Petition nicht einfach aus formalen Gründen übergeben, sondern aus tiefem Bedürfnis nach Gerechtigkeit.
Dass die mitverantwortlichen Ministerien sowie die CDU/CSU-Fraktion uns keinen Termin angeboten haben, war enttäuschend und zeigt, wie schwer es immer noch ist, gehört zu werden.
Die Abgeordneten der SPD, Linken und Grünen haben uns respektvoll empfangen und man hat gespürt, dass sie unser Anliegen ernst nehmen. Aber teilweise sind sie mit Phrasen ausgewichen, weshalb wir auch Bedenken haben. Wir nehmen mit, dass unsere Forderungen jetzt parlamentarisch vorgelegt wurden, und erwarten von den Abgeordneten eine zeitnahe Rückmeldung und konkrete Schritte.

Die Petitionsübergabe zeigt erste Wirkung: Die SPD-Fraktion erklärte schriftlich, sie wolle Opferrechte gesetzlich stärken. Die Fraktion Die Linke stellte eine Kleine Anfrage zum Stand der NSU-Ermittlungen – die Bundesregierung verweigerte jedoch bislang Auskünfte zu laufenden Verfahren.
Was erwartet Ihr jetzt von Politik und Gesellschaft?
Wir fordern lückenlose Offenlegung aller Akten und Vernehmungen und bestehen auf einen klaren Ausschluss von Hafterleichterungen für Täter. Wir erwarten dauerhafte finanzielle, psychologische und juristische Unterstützung für Angehörige. Wir wünschen uns mehr gesellschaftliche Solidarität, Zivilcourage, Gedenken und Aufklärung. Das Einsetzen gegen Rassismus sollte nicht nur für die Medien und Bevölkerung vorgespielt werden.
Von der Gesellschaft wünschen wir uns mehr Solidarität, mehr Empathie und das Bewusstsein, dass der NSU kein abgeschlossenes Kapitel ist, sondern Teil unserer Gegenwart. Erinnerung und Aufklärung müssen lebendig bleiben.
Wie kann man Euch am besten unterstützen?
Die Forderung nach Aufklärung muss aufrechterhalten werden.
Am meisten hilft es, wenn Menschen hinschauen, sich informieren und unsere Stimmen weitertragen. Dass die Namen der Opfer nicht vergessen werden, dass ihre Geschichten erzählt werden, das ist echte Unterstützung.
Semiya Şimşek, Mandy und Michalina Boulgarides sowie Gamze Kubaşık haben für die Familien der NSU-Opfer die Initiative „Echoes of Witnesses“ gegründet. Folgt ihr und anderen Initiativen auf Instagram:
Wer kann, sollte zu Gedenkveranstaltungen kommen, oder einfach im eigenen Umfeld über den NSU-Komplex sprechen. Jede Form von Solidarität zählt. Unterstützt Initiativen, die Rechtsberatung, Traumahilfe und Gedenkarbeit leisten. Helft mit, Bildung über Rechtsextremismus und Erinnerungsarbeit zu stärken.
Es geht nicht nur um uns als Familien, sondern darum, dass so etwas nie wieder passieren darf!
Semiya Şimşek, Mandy und Michalina Boulgarides und Gamze Kubaşık haben ihre Petition zwar bereits an Politiker*innen übergeben – der Weg ist hier aber noch lange nicht beendet. Mehr Stimmen helfen, der Petition noch mehr Gewicht zu verleihen und Aufmerksamkeit zu schenken.
Rechtsextreme Gewalt ist kein Thema der Vergangenheit – im Gegenteil. Die Anzahl rechtsextrem motivierter Straftaten und Gewalttaten ist zuletzt wieder gestiegen. Lies hier weitere Beiträge im Blog, die sich mit Gewalt und Hass von Rechts beschäftigen: