Die Welt der sozialen Medien ist wunderbar widersprüchlich. Den meisten Menschen ist bewusst, dass die großen Digitalplattformen, wie Twitter/X, Facebook und Co., keine gute Sache sind. Die Plattformen rauben uns Zeit und Nerven. Sie machen süchtig und unzufrieden. Sogenannte soziale Medien durchleuchten und analysieren uns und kennen unsere Standorte. Sie üben politischen Druck auf Regierungen aus. Ihre intransparenten Algorithmen verbreiten Hass und Desinformationen. Triebhaftes Influencing funktioniert, aber Inhalte, zu denen auch werbende Produktinformation gehören, gehen unter.
Sucht-Media: Wider besseren Wissens
Die meisten Nutzer*innen wissen und spüren das und lassen sich trotzdem täglich viele Stunden von Feeds, Posts und Likes ablenken. Trotzdem investieren Universitäten und Bildungseinrichtungen nach wie vor Arbeit und Geld in private Plattformen. Die Politik spricht aktuell viel und stolz über digitale Souveränität, aber tut im Bereich sozialer Medien noch nichts Wirksames. Digitale Souveränität bedeutet, unabhängig von den Regeln, Algorithmen und dem Einfluss der Digitalkonzerne kommunizieren zu können. In Demokratien sollte unabhängige, öffentliche Kommunikation eine Selbstverständlichkeit sein.
Diese Widersprüche sind kein Grund zur Verzweiflung. Im Gegenteil: Sie sind wunderbar, weil sie Verbesserung möglich machen. Wirklich zufrieden mit sogenannten sozialen Medien sind nur noch wenige. Wer ehrlich ist, weiß, dass diese Plattformen längst sozial dysfunktional geworden sind. Das wissen Profis in der Werbebranche, das wissen Influencer ebenso wie Fachpolitiker*innen und das wissen auch die Menschen in Social-Media-Abteilungen. Die offensichtliche Frage lautet: Wann werden wir unabhängige, gemeinwohlorientierte Räume für öffentliche Kommunikation schaffen?
Mainz geht, die Physikalische Gesellschaft kommt
Aktuell nachvollziehen lässt sich diese Diskussion am Beispiel der Stadt Mainz. Die Stadt verabschiedet sich aus dem Fediverse. Das „Federated Universe“ ist ein Zusammenschluss voneinander unabhängiger sozialer Netzwerke mit gemeinsamen Schnittstellen. Wer weiterhin Kurznachrichten erhalten will, braucht einen Account bei den privaten und problematischen Plattformen Instagram, Facebook oder Threads. Dabei ist das sogenannte Fediverse zurzeit das soziale Netzwerk mit dem größten Demokratiepotenzial. Aber nach wie vor wird primär auf Marketingzahlen wie Reichweite geschaut, wenn es darum geht, in einem sozialen Medium aktiv zu sein. Große Zahlen beeindrucken. Demokratische Werte interessieren nicht.
Update: Kommunikation kann Dinge bewegen! Die Stadt Mainz hat viele Reaktionen auf ihren erklärten Abschied von Mastodon bekommen und wird im Fediverse bleiben und bedankt sich für „die vielen, konstruktiven Reaktionen“.
Warum sollte sie auch? Kommunen und öffentliche Einrichtungen bekommen für ihr Engagement in demokratischen Medien weder Anerkennung, Förderung, Anreize noch politische Rückendeckung. Demokratische Kommunikation ist aufwendig und kostet. Das passt in keinen Haushalt, also wird nie ein unabhängiger, öffentlicher Kommunikationsraum entstehen. Wenn öffentliche Einrichtungen aus Überzeugung ins Fediverse kommen, werden sie mit Freude empfangen, wie aktuell die Deutsche Physikalische Gesellschaft. Wenn sie gehen, bleibt Ernüchterung. Im Großen und Ganzen geht es nicht voran, oder?
Viel erreicht in 2025!
Es geht voran: 2025 war ein gutes Jahr für unabhängige soziale Medien: Das „Aktionsbündnis neue soziale Medien“, das „Zentrum für Digitalrechte und Demokratie“ sowie das Bündnis „Offene Netzwerke und Demokratische Öffentlichkeiten“ und andere haben konkrete Forderungen für die Weiterentwicklung unabhängiger sozialer Medien vorgelegt. Das Bündnis „Offene Netzwerke30“ schlägt vor: 30 Millionen Euro jährlich für eine gemeinwohlorientierte digitale Social-Media-Infrastruktur, Präsenz von öffentlichen Institutionen in mindestens einem offenen und unabhängigen sozialen Netzwerk (Plus1-Prinzip), die Anerkennung der Gemeinnützigkeit für Freie-Software-Infrastruktur und den Aufbau einer europäischen Medienplattform.
Mastodon wurde als digitales öffentliches Gut anerkannt und erhielt, ebenfalls als einziges soziales Medium, den Grimme Online Award 2025 stellvertretend für die Idee des Fediverse. Im internationalen Verbund mit öffentlich-rechtlichen Medien in Australien, Belgien, Kanada und der Schweiz arbeitet das ZDF im Projekt „Public Spaces Incubator“ weiter an Lösungen für besseren öffentlichen Dialog – mit Anbindung an das Fediverse.
Dezentrale soziale Medien waren Thema bei den Münchner Medientagen, dem Berliner Fediverse Tag, der Republica, bei politischen Fachgesprächen, in der Wissenschaftskommunikation und in der Bildung.
Die Bertelsmann Stiftung und die Agora Digitale Transformation haben Strategiepapiere zum Thema souveräne soziale Medien und Demokratie vorgelegt. Schließlich ist das Thema digitale Souveränität mit dem Digitalgipfel auch auf der Agenda der europäischen Politik angekommen. Der französische Präsident Emmanuel Macron kritisierte die gefährliche Macht der Algorithmen von privaten Social-Media-Plattformen.
Es ist alles da. Warum geht es nicht richtig los mit den digital souveränen Netzwerken?
Reichweite ist so 2025
Die Probleme, die private Social-Media-Plattformen mit sich bringen, werden immer häufiger benannt. Gleichzeitig wird mit minimalen Ressourcen an der Verbesserung dezentraler Lösungen gearbeitet. Was fehlt, sind wirksame politische Impulse und Investitionen in relevanter Größenordnung. Das liegt unter anderem an einer fehlgeleiteten Debatte über Reichweite. Nach wie vor werden die von den Plattformen herausgegebenen Marketingzahlen zu Impressions und Follower als wertvoller erachtet als die Qualität der Kommunikation, die Gefahren durch US-amerikanische und chinesische Plattformen oder digitale Souveränität und Unabhängigkeit.
Die Reichweiten-Debatte ist irreführend, weil in dezentralen Netzwerken nicht überwacht wird, wer welchen Beitrag anklickt. Das ist ein Vorteil! Im Fediverse geht es um Inhalte und nicht darum, wer am lautesten schreit oder das größte Werbebudget hat. Genau darum ist das Fediverse der richtige Ort für Menschen, die sich informieren und austauschen möchten; für Akteure der Zivilgesellschaft, für öffentliche Einrichtungen, Wissenschaft, Journalismus und Unternehmen mit Anspruch.
Mein Wunsch für 2026
Für das kommende Jahr wünsche ich mir, dass endlich eine qualitätsorientierte Debatte über soziale Medien geführt wird. Statt über Reichweite sollten wir über digitale Souveränität sprechen. Nicht die Anzahl von Followern ist relevant, sondern die Frage, ob Inhalte frei zugänglich sind; also ohne App, ohne Werbung, ohne Auslieferung von persönlichen Verhaltens- und Standortdaten. Auf privaten Plattformen ist unabhängige Kommunikation nicht möglich, weil diese in erster Linie eigene finanzielle und politische Ziele verfolgen.
Ich wünsche mir Diskussionen darüber, wie soziale Netzwerke aussehen sollten, damit sie den Zielen und Werten von Universitäten und anderen öffentlichen Einrichtungen entsprechen. Eine Wissens- und Informationsgesellschaft braucht digitale Räume, die Wissens- und Informationsaustausch begünstigen und nicht verhindern. Ich wünsche mir, dass sich die Kommunikationsprofis aus öffentlichen Einrichtungen, Politik, Wissenschaft und Bildung in diese Debatte einbringen. Ich wünsche mir, dass immer, wenn das Wort Reichweite fällt, eine Person sagt: „Mooomentchen mal, Reichweite war gestern. Wir reden jetzt mal über Qualität, Souveränität und Demokratie.“