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„Unsere Gesellschaft braucht mehr Empörte“

Florian Kessler hat sich nicht geschont: Über Monate ging er auf jede Demo, für die er einen Handzettel finden konnte. Bei Anti-Nazi-Demos ließ er sich von Polizisten wegtragen, demonstrierte gegen Stuttgart 21 und lief am 1. Mai in Berlin-Kreuzberg versuchsweise im schwarzen Block mit. Aus seinen Gesprächen, Erfahrungen und Gedanken ist sein aktuelles Buch entstanden: Mutbürger […]

Florian Kessler hat sich nicht geschont: Über Monate ging er auf jede Demo, für die er einen Handzettel finden konnte. Bei Anti-Nazi-Demos ließ er sich von Polizisten wegtragen, demonstrierte gegen Stuttgart 21 und lief am 1. Mai in Berlin-Kreuzberg versuchsweise im schwarzen Block mit. Aus seinen Gesprächen, Erfahrungen und Gedanken ist sein aktuelles Buch entstanden: Mutbürger – Die Kunst des neuen Demonstrierens. Wir haben mit ihm über die Kunst gesprochen, wirkungsvoll zu protestieren.

Campact: Klicken Sie lieber eine Petition oder gehen Sie lieber auf die Straße?
Florian Kessler: Beides. Machen ja auch die meisten so.

Gehen Sie alleine auf die Demo, oder zu zweit?
Zu zweit. Zusammen ist’s viel schöner.

Vor einer Demo: duschen oder Zeitung lesen?
Beides! Zeitung ist auch wichtig! Du musst wissen, um was es bei der Demo geht.

Danach: duschen oder feiern?
Kommt auf die Demo an. Wenn ich mit Freunden demonstriere, ist oft schon die Demo eine einzige große Feier.

Währenddessen: Parolen rufen oder Schilder halten?
Schilder halten. Dann vermittele ich ganz genau meine Botschaft.

Handy an oder aus?
Ich behalte meines an. Man sollte aber keine Nummern gespeichert haben, die nicht ausgelesen werden sollen.

Mit dem Handy filmen oder telefonieren?
Erst neulich haben Bekannte von mir prügelnde Polizisten gefilmt. Da war das recht praktisch.

Mit Turnschuhen oder Sandalen auf die Straße?
Turnschuhe. Kommt man schneller hin, kommt man schneller weg.

Bei Regen: Parka oder Gore-Tex?
Parka. Perlt auch gut ab.

Zur Sicherheit zusätzlich mitnehmen: Topf oder Regenschirm?
Topf. Damit kann man besser Krach machen. Meinen Topf habe ich letztes Jahr sogar als Schirm eingesetzt, bei einer Demo vor dem Bundesrat, im strömenden Regen.

Den Einwand „Das bringt doch nichts“: ignorieren oder beantworten?
Beantworten. Es gibt ein paar Standardargumente, die Leute immer wieder vorbringen. Die lassen sich aber oft leicht entkräften. Wer auf Demos geht, erlebt schnell: Er oder sie verändert eben doch etwas. Unsere Gesellschaft braucht mehr Empörte.

In Ihrem Buch schreiben Sie vor allem über Demos auf den Straßen. Ist das nicht ziemlich altmodisch?
Ja, aber wirkungsvoll.

Wie meinen Sie das?
Nehmen Sie zum Beispiel das Jahr 2011. Da haben wir überall Menschen auf den Straßen gesehen, auf dem Tahir-Platz, im Arabischen Frühling, bei Occupy – und diese Menschen haben etwas angestoßen. Vielleicht nicht alles, was sie wollten, aber sie haben definitiv etwas bewirkt.

Das Internet braucht es also gar nicht?
Moment. Die Frage ist ja, wo habe ich die eben von mir beschriebenen Demo-Bilder gesehen? Die habe ich doch fast immer im Internet gesehen. Die Veranstalter haben auf Facebook und anderen sozialen Medien mobilisiert. Nur so konnten sie ihre Wirkung entfalten. Schon allein das zeigt, dass politische Aktionen innerhalb und außerhalb des Netzes heute nicht mehr zu trennen sind. Es ist nicht eines wichtiger als das andere, sondern beides nötig.

Ihr Buch trägt den Untertitel Die Kunst des neuen Demonstrierens. Was ist denn am Demonstrieren heute neu?
Der große Unterschied ist, dass es durch das Internet ist viel leichter geworden, selbst eine politisch schlagkräftige Gruppe zu gründen. Wir brauchen dafür weniger Ressourcen. Die Leute können selbst auf mehr Weisen eingreifen, sich viel schneller vernetzen, und lokal Widerstand leisten – und das dann einer weltweiten Öffentlichkeit präsentieren. Die Bürgerinnen und Bürger besitzen durch das Netz eine viel größere Selbstkompetenz. Darauf müssen die Gesellschaften reagieren.

Sehen Sie die Gefahr, dass man mit Klicks sein Gewissen beruhigt, statt auf die Straße zu gehen?
Das ist eines der Standardargumente gegen Proteste. Ich weiß gar nicht, was so schlimm daran sein soll, wenn jemand sein Gewissen beruhigt. Immerhin tut er dann Dinge, die beweisbar Verhältnisse verändern können. Das gilt durchaus auch für einfaches Klicken. Es gibt Beispiele für Kampagnen, die durch reines Online-Engagement funktioniert haben. Ich sehe also gar keine Gefahr im „Clicktivism“. Am effektivsten finde ich allerdings in den meisten Fällen: sowohl Klicken, als auch laufen.

Was macht Ihnen mehr Spaß?
Klicken ist sehr einfach, deshalb manchmal aber auch ein wenig einsam. Auf eine Demo zu gehen ist nicht ganz so einfach, dafür umso befriedigender. In Stuttgart und Gorleben habe ich erlebt, wie es die Menschen verändert, wenn man sich wirklich gemeinsam einsetzen.

Muss sich Online-Aktivismus in Petitionen erschöpfen?
Wie gesagt: die Kosten der Gruppenbildung sinken durch das Internet. Das führt dazu, dass wir vor einem neuen Problem stehen: Wir haben nun eine Inflation von möglichen Gruppen und von möglicher Erregung. Jeder kann einen Shitstorm lostreten. Das passiert ständig. Die Frage ist: Wie kann man mit dieser Inflation demokratischer Empörung umgehen?

Wie denn?
Ich denke, dafür brauchen wir Leuchttürme, herausstechende Gruppen und klar benannte Aktivisten, die als Kuratoren dieser demokratischen Empörung auftreten. Die funktionieren wie ein Siegel: Empörte mit guten Argumenten und stabiler Reputation, denen man vertrauen kann im allgemeinen Meer der Empörung.

Aber weswegen sich nicht direkt politisch engagieren – statt sich zu empören?

Langfristig wird es in allen westlichen Demokratien eine Verschiebung geben, hin zu mehr Open Government und zu politischen Strukturen, die Bürgern mehr Mitgestaltung ermöglichen. Und es wird einfacher werden, auch im Internet Politik direkt mitzugestalten. Aber wir dürfen nicht vergessen: Protest ist auch schon eine Form von Partizipation. Weil er auf Missstände aufmerksam macht. Unsere Gesellschaft braucht mehr Empörte. Meistens diskutieren und beschreiben diese Leute ja lange vor einer Demo alternative Lösungen im Netz. Internetproteste machen heute schon Visionen klar. Sie zeigen, wie Missstände angegangen werden können.

Vielen Dank für das Gespräch.

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6 Kommentare

Kommentare sind geschlossen
  1. Vergangene Woche musste die riesige Brachfläche von rund 1.800 Polizisten bewacht werden, damit diese nicht von Demonstranten gestürmt und besetzt wird. Es kam zu Auseinandersetzungen und zahlreichen Festnahmen. Im Internet hatte eine Aktivisten-Gruppe zuvor unter dem Slogan „Squat Tempelhof“ zu der Besetzung aufgerufen. Tausende sind diesem Aufruf gefolgt. Unter ihnen Gewaltbereite, Erlebnisorientierte und politisch Motivierte. Es erscheint ein wenig irrwitzig, dass tausende Menschen auf die Straße gehen, um eine Brachfläche zu stürmen, jedoch kaum jemand auf der Straße gegen das „Verbrennen“ von Milliarden demonstriert.

  2. Einen schönen und herzlichen Gruß an diesen tapferen Mitstreiter, er steht ganz und gar nicht alleine da!

  3. Eine schöne Aktion, aber ändern wird diese Aktion nichts.
    Mein Tipp für eine friedliche Möglichkeit der Veränderung der Politik:
    Ein Ja-sager geht zur Wahl und wählt was man halt so wählen kann. Im Moment der Abgabe der eigenen Stimme wird man zum Ja-Sager. Es ist gleichzeitig der Moment an dem man die eigene Stimme hergibt, also schenkt! Soviel zum Märchen dass die eigene Stimme die Anderen kriegen wenn man nicht wählen geht. Wer nicht wählt, verschenkt die Möglichkeit etwas zu ändern. Da nur die abgegebenen Stimmen gezählt werden ist
    es für die Parteien ein Geschenk wenn man den Wahlzettel nicht ausfüllt und nicht zur Wahl geht. Dann nämlich haben die Parteien einen wesentlich höheren Anteil bei den abgegebenen Stimmen als wenn die Wahlzettel der frustrierten Wähler und vor allem die der Nichtwähler ein grßes großes Kreuz haben. Das bedeutet dann wir wählen und schenken unsere Stimme nicht her – Ihr aber kriegt meine Stimme nicht……

  4. JA, empörung ist gut, auch kann der Zorn einen gut antreiben, sagte schon Georg Schramm.
    ABER leider, auch dem Interview entgegen, wird es unterm Strich, speziell hier in Deutschland, nicht funktionieren. Nein, nicht weil Demonstrieren nichts bringt, sondern weil der gemeine Deutsche ein SCHAF ist – ja, ich wiederhole: ein SCHAF.
    Gelernt und kulturell eingeimpft seit der Preußenzeit, hat der Deutsche gelernt lieber dumm und pragmatisch zu bleiben. Solange Bier, Fußball und die BLÖD (äh, Bild-) Zeitung noch bestehen, ist alles in Ordnung.
    Und wenn es scheisse läuft sagt er sich, kann man eh nix machen, und woanders ist es noch schlechter, ausserdem hat mein „hierkommtderLieblingsfussballverein“ grade wieder ein Heimspiel, dass will ich sehen.
    Nein, einige Intelektuelle schauen sich Pispers und Priol an, meckern in sich hinein, holen sich vielleicht noch das eine oder andere gut recherchierte Buch, um eine Gegenmeinung zur gleichgeschalteten Presse zu bekommen, aber diese Menge an Menschen ist in der extremen Minderheit.
    Der Rest …. ich wiederhole: Schafe … blöcken vor sich hin, aber mehr passiert nicht und sie folgen ihrem Schäfer (Metzger ;-)) und Merkel ist doch toll 😉

    Nein, der Deutsche taugt nicht zum revolutionieren oder demonstrieren und schon gar nicht, solange ihn das „Rasen betreten“ Schild auch davon abhält. Da ist der Franzose oder Spanier schon anders drauf …
    Aber vielleicht ist ja alles auch ganz anders …

    • Klar, für politisch Engagierte ist es manchmal frustrierend, wenn sich scheinbar nichts tut. Aber die Deutschen entdecken gerade ihre Lust am Demonstrieren. Ich zitiere mal aus der Einleitung von Florian Kesslers Buch:

      Plötzlich sind wir viele. Und plötzlich sind wir überall. In Berlin zum Beispiel, wo die Behörden lange Zeit weit weniger als 3000 jährliche Anmeldungen für Demonstrationen registrierten. Mit dem neuen Jahrzehnt schoss die Zahl durch die Decke. 2011 gab es genau 4048 Aufzüge und Versammlungen. Das macht im Schnitt elf Demonstrationen pro Tag, alleine in der Hauptstadt!

      Wir erleben genau jetzt den Augenblick, in dem das Demonstrieren und Protestieren unsere gesamte Gesellschaft von Grund auf verändert. Oder wie soll man das sonst beschreiben, wenn in den letzten Jahren mehr als 20 Millionen Menschen Demonstrationserfahrungen gesammelt haben und zugleich laut einer Umfrage vom Frühjahr 2011 über 80 Prozent aller wahlberechtigten Bürger nicht mehr bloß periodisch wählen gehen wollen,
      sondern direkteren Einfluss auf politische Entscheidungen fordern – ein Jahr zuvor war es erst knapp die Hälfte gewesen?

      Da passiert gerade etwas, das allerdings kaum jemals vollständig in den Blick gerät.

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