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So könnte Kinderarmut erfolgreich bekämpft werden

Jedes fünfte Kind in Deutschland lebt in Armut - Tendenz steigend. Ein breites Bündnis von Wohlfahrtsorganisationen ist angetreten, das zu ändern - mit einem völlig neuen Ansatz.

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Kindergeburtstag, Klassenfahrt und Karneval lassen Kinderherzen höher schlagen – doch nicht bei allen. Für drei Millionen Kinder in Deutschland werden diese freudigen Anlässe schnell zur Belastung, denn ihren Eltern fehlt das Geld für Geburtstagsgeschenke, die Klassenfahrt oder ein Kostüm. Ein breites Bündnis von Wohlfahrtsorganisationen hat sich deshalb jetzt zusammen geschlossen, um Kinderarmut in Deutschland zu bekämpfen. Barbara Eschen erklärt im Interview, welche Schritte dazu nötig sind und wie Du sie dabei unterstützen kannst.

Campact: Jedes fünfte Kind in Deutschland lebt in Armut. Was sind Ihrer Meinung nach die Hauptursachen für Kinderarmut in Deutschland?

Barbara Eschen: In Deutschland gibt es vielfältige Hilfen für Familien. Sie sind aber nicht darauf ausgerichtet, Armut in besonderen Problemsituationen zu verhindern. Sie fördern am Besten Familien von Verheirateten mit ein bis zwei Kindern. Ein wesentlicher Teil der Familienförderung läuft über Steuernachlässe. Davon haben all diejenigen wenig, die kaum oder keine Steuern zahlen. Das Ehegattensplitting hilft nur Verheirateten. Alleinerziehende haben dagegen Steuernachteile. Und wenn Unterhalt fehlt, rutschen Familien von Alleinerziehenden in Hartz IV. Es gibt keinen besonderen Kinderzuschlag für Ein-Eltern-Familien. Nicht einmal die höheren Umgangskosten der getrennt lebenden Eltern mit ihren Kindern sind im Sozialrecht abgedeckt. Im Ergebnis werden die Familien am Besten gefördert, die schon in der günstigsten Situation sind und die höchsten Einkommen haben.


Sie sind Pfarrerin, haben in der Telefonseelsorge gearbeitet und leiten heute das Diakonische Werk in Berlin-Brandenburg. Aus Ihrer Erfahrung: Was genau bedeutet Armut für Kinder in Deutschland?

Armut bedeutet eine ganz bittere Ausgrenzungserfahrung. Das sind Kinder, die auf dem Schulhof wegen schlechterer Kleidung gehänselt werden. Die von den anstehenden Hausaufgaben nichts mitbekommen, weil das Handy für die schulische Whats-App-Gruppe fehlt. Die nicht im Internet recherchieren können, wenn das verlangt wird. Deren schulische Ausrüstung mangelhaft ist, weil das Schulbedarfspaket für arme Haushalte nur die Hälfte der tatsächlichen Kosten übernimmt. Und das sind Kinder, die beim Mittagessen in Schule und Hort zugucken müssen, weil die Eltern die 1 € Eigenbeteiligung nicht aufbringen können. Sie gehören einfach nicht dazu.

Sie haben auf WeAct eine Petition mit initiiert, die unter dem Motto “Keine Ausreden mehr!” die Parteien zur Bundestagswahl auffordert, Kinderarmut endlich zu bekämpfen. Was muss Ihrer Meinung nach unternommen werden, um Kinder aus der Armut zu holen?

Wir brauchen Hilfen für arme Kinder, die zielgenau wirken. Jedes Kind muss den gleichen Betrag für sein Existenzminimum bekommen, nicht Kinder reicher Familien mehr. Die Infrastruktur für Kinder und Familien muss besser ausgestaltet sein. Und diejenigen, die besonders wenig haben, müssen bedarfsgerechte Hilfen dazu bekommen.

Hinter der Petition steht die Nationale Armutskonferenz, deren Sprecherin Sie sind. Wer oder was ist die Nationale Armutskonferenz und was sind ihre Aufgaben?

In der nationalen Armutskonferenz arbeiten Wohlfahrtsverbände, Gewerkschaften, Fachverbände der sozialen Arbeit und Betroffenenorganisationen zusammen. Wir wollen den Armen eine Stimme geben und versuchen, so etwas wie eine Lobbyorganisation für die Interessen Armer zu sein. Und wir machen darauf aufmerksam, dass soziale Rechte auch Menschenrechte sind. Deutschland hat zum Beispiel den UN-Sozialpakt unterzeichnet. Demnach sind das Existenzminimum, Wohnen und Arbeit besonders geschützt. Wir organisieren Protest, wenn wieder einmal von Politikerinnen und Politikern oder Medienschaffenden behauptet wird, es wäre eine Gnade und kein Recht, Hilfen gegen Armut zu bekommen.

Im Saarland, Schleswig-Holstein und in NRW stehen im Frühjahr Landtagswahlen an und auch der Bundestagswahlkampf wird bald beginnen. Was werden Sie und Ihre Mitstreiter/innen tun, damit Kinderarmut stärker von der Politik bekämpft wird?

Wir werden über das WeAct-Portal die Unterzeichnenden aufrufen, sich auch einzeln an die Kandidatinnen und Kandidaten zu wenden. Wir wollen konkret nachfragen, ob diese etwas genau Beschreibbares gegen Kinderarmut tun wollen oder dabei ganz vage bleiben. Und wir wollen das Thema auf der medialen Agenda halten. Ein Schritt ist, durch viele Unterschriften für unsere Petition deutlich zu machen: Politikerinnen und Politiker werden in der Öffentlichkeit auch daran gemessen, ob sie gerechte Chancen für alle Kinder verwirklichen – oder ob sie es hinnehmen, dass Familien über Generationen in Armut bleiben.

Barbara Eschen ist Sprecherin der Nationalen Armutskonferenz. Sie leitet die Diakonie Berlin-Brandenburg, ist Pfarrerin und hat mehrere Jahre in der Luthergemeinde in Hagen gearbeitet. Außerdem hat sie ein Sondervikariat in der Telefonseelsorge gemacht.


Kinderarmut in Deutschland

Jedes fünfte Kind in Deutschland ist arm. Seit Jahren steigt die Zahl trotz positiver Trends in der Wirtschaft. Besonders zwei Familien-Konstellationen sind überdurchschnittlich von Armut betroffen: Gut die Hälfte aller armen Kinder lebt in Ein-Eltern-Familien, etwa 36 Prozent in Familien mit zwei oder mehr Geschwistern. Armut bedeutet für Kinder aus diesen Familien nicht nur materieller Verzicht: Sie erleben schon früh Ausgrenzung, sind häufiger gesundheitlich beeinträchtigt und haben schlechter Bildungschancen.

Weitere Informationen:


WeAct Logo

Diese Petition wurde auf WeAct, der neuen Petitionsplattform von Campact, gestartet. Es ist also keine Kampagne von Campact. Da Campact aber die Ziele der Petition unterstützt, möchten wir Dich auf die Kampagne hinweisen.

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Autor*innen

Simone Katter, Jahrgang 1979, hat Soziologie mit dem Schwerpunkt Entwicklungspolitik studiert und ist ausgebildete Journalistin. Sie hat für das Deutsche Institut für Menschenrechte, Oxfam und zuletzt als Referentin für Online-Kommunikation beim INKOTA-netzwerk gearbeitet. Nach Stationen in Mexiko und Nicaragua lebt die gebürtige Ruhrgebietlerin heute in Berlin. Ob bei der Antifa, Anti-Atombewegung oder attac – gemeinsam mit anderen für Gerechtigkeit zu streiten, das treibt sie an. Bei Campact hat sie die Petitionsplattform WeAct betreut. Alle Beiträge

8 Kommentare

Kommentare sind geschlossen
  1. Um Kinderarmut wirkungsvoll bekämpfen zu können, braucht es nicht mal nur Geld. In erster Linie braucht es ein anderes Bewusstsein der Menschen.
    Armut ist die beste Chance für eine psychische Erkrankung. Immer sind auch die Kinder betroffen – und entwickeln ebenfalls Störungen. Es gibt kaum ein Netzwerk, dass sich um die psychische Gesundheit der Leute kümmert. Eigentlich müsste ein ganzer Schwarm gut ausgebildeter Ärzte, Therapeuten und Sozialarbeiter bereit stehen. Ich sage das nicht, weil ich sowas als Stammtischparole nutze. Sondern weil ich in einem Viertel voller abgehängter Menschen für genau diese Menschen seit Jahren arbeite und alles tue, damit sie wieder lernen, gerade zu gehen und neuen Mut fassen. Und unsere Arbeit scheitert einerseits ganz oft an einem nicht vorhandenen (Frühwarn-)Netzwerk für psychiatrische Hilfen, fehlende sozialpädagogische Hilfen besonders für junge Erwachsene und… am Geld. „Hilf mir, es selbst zu schaffen“ muss hier im Vordergrund stehen.

  2. Eine Sauerei ohnesgleichen!!!
    Reines Politikversagen, aller Parteien, Gewerkschaften und Kirchen jedweder Religionszugehörigkeit da ist keiner unschuldig.
    Und es wird sich auch dahingehend nichts ändern.
    Letztendlich geht es um Macht, Unterdrückung und Versklavung aller betroffenen Menschen, ob Kind oder Erwachsener, dies ist bittere Realität.
    Als einzelner ist man machtlos, man kann nur bedingt helfen, und das widerum tun auch nur wenige.

  3. Hallo, ich finde es ja gut, das ihr Euch einsetzt gegen Kinderarmut , aber ich verstehe nicht, warum als weitergehende Information auf die Bertelsmann-Stiftung verwiesen wird , die ja maßgeblich an der Agenda 2010 mitgewirkt hat . Ich denke , es gibt bessere Quellen .

    • Liebe Frau Reinhart,
      das ist natürlich nur eine Quelle. Es ist aber meines Wissens nach eine der aktuellsten Studien zu dem Thema. Eine weitere Studie, die aber nur in Teilen auf die Situation von Kindern eingeht, ist die Studie „Zeit zu handeln. Bericht zur Armutsentwicklung in Deutschland 2016“.

      Auf weitere Anregungen von Ihnen freue ich mich.

  4. Es ist eine Schande, dass Milliarden an Steuergeldern für Aufrüstung und für korrupte Banken verschwendet werden, während durch Sozialabbau und Lohndumping immer mehr Menschen marginalisiert werden. Dass nicht einmal Kinder in diesem Land geschützt und gefördert werden macht sprachlos…

  5. „Jedes Kind muss den gleichen Betrag für sein Existenzminimum bekommen,“
    .
    Bedingungsloses Grundeinkommen für jeden,
    in auskömmlicher Höhe für eine soziokulturelle Teilhabe.

    Im Ersten Schritt z.B. als Erhöhung des Kindergeldes auf einen Betrag zwischen 500 und 600 Euro.
    (Zugleich „volle Anrechnung“ bei HIV – solch ein Kindergeld reicht. Ggf. regional noch Zusatzhilfen wie Wohngeld und Härtefallunterstützung, wenn den tatsächlich benötigt).
    Nur persönlich.
    Keine Anrechnung als Einkommen auf Bedarfsgemeinschaften,
    keine Minderung von Sozialgeld oder Erwerbslohn der Eltern.
    Für ältere Kinder mehr.
    .
    Mit solch einer Sicherheit können auch Alleinerziehende besser den Konflikt zwischen Geldmangel/Arbeitsnotwendigkeit und Kindererziehung lösen, und bei Familien mit Doppelverdienern können die Eltern vielleicht etwas mehr Zeit für die Kinder haben.

  6. Kommentar 1 von 2 (Textblock zu klein)
    „Und das sind Kinder, die beim Mittagessen in Schule und Hort zugucken müssen, weil die Eltern die 1 € Eigenbeteiligung nicht aufbringen können. Sie gehören einfach nicht dazu.“
    .
    Vergessen sind die Kinder von Erwerbstätigen die „genügend“ Geld haben, um keine Hilfen zu bekommen, aber nicht genügend Geld habe, um den Vollsatz zum Mittagessen zu bezahlen, weil die Eltern zum Beispiel – trotz Armut und Isolation – für Kita- und Ganztagsschule horrende Beiträge bezahlen müssen.
    .
    Vergessen ist, dass Kindergeburtstage und Klassenfahrten für solche Kinder bedeuten, dass es an Kleidung und Essen eingespart werden muss, am Busticket, am Kinobesuch, am Urlaub – sogar an der Teilhabe an Sportvereinen, weil die erwerbstätigen Eltern dieses nicht bezahlen können. Und zugleich als „Besserverdienende“ beleidigt werden.
    Kindern von HIV-Beziehern sind hierbei noch deutlich im Vorteil, weil viele dieser Sonderausgaben vollständig vom Amt übernommen werden.

  7. Kommentar 2 von 2 (Textblock zu klein)
    „Und das sind Kinder, die beim Mittagessen in Schule und Hort zugucken müssen, weil die Eltern die 1 € Eigenbeteiligung nicht aufbringen können. Sie gehören einfach nicht dazu.“
    .
    Kita umsonst, Zuschuß zum Schulmaterial zum Klassenbeginn – Klassenfahrten werden vollständig übernommen, wenn der Lehrer geschickt ist, sogar mit Taschengeld.
    Die Kinder von armen Erwerbstätigen müssen dagegen zu Hause bleiben.
    Ich habe absolut nichts dagegen, dass den HIV-Kindern dieses zusätzlich gegeben wird, ich halte es für eine notwendige Selbstverständlichkeit.
    Aber warum wird den anderen nichts gegeben ?
    Es gibt Schulklassen, da werden vorab die 2 bis 5 Kinder angeschrieben, die kein HIV bekommen, ob die Eltern die Klassenfahrt leisten können. Steigt einer wegen Armut aus, fällt die Klassenfahrt auch für die anderen 25 Kinder aus, die es vom Amt bezahlt bekämen.
    das ist doch wohl der völlig falsche Ansatz.

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