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Umsehen lernen

Vorurteile sind nicht zwingend Rassismus. Und doch sind sie Zeichen dafür, dass es rassistische Strukturen gibt. Deutschland muss da viel sensibler sein.

Sibel Schick macht in Instanbul dieses Foto mit Doppelbelichtung. Es bebildert nun einen Text der Journalistin zum Thema Rassismus und Vorurteile.
In Istanbul. Quelle: Sibel Schick

„Bei euch isst man ja sehr scharf. Für dich wäre das nicht so schlimm, aber mir hat die Zunge richtig gebrannt!“ erzählt sie und steuert ihren SUV zum Treffpunkt. Sie erzählt gerade viel von Essen, weil wir uns lange nicht sahen und sie jetzt vegan lebt. Wir sind keine besten Freundinnen, aber immerhin kennen wir uns seit circa 20 Jahren. Wir treffen uns in dieser Mega-Stadt, in der ich seit sieben Jahren nicht war, und sehen gleich zwei alte Freundinnen. Mit „bei euch“ meint sie nicht meine Wohnung in Leipzig, sondern die Gesamtheit von Kurd*innen als eine vermeintlich homogene Gruppe.

Vor wenigen Jahren saß ich in der Küche mit Freund*innen, wir buken Pizza. Eine Freundin litt unter der für sie sehr scharfen Salami. Mit jedem Biss wurden ihre Augen etwas feuchter, sie atmete durch den mit Pizza gefüllten Mund ein und aus und kaute, aß aber weiter. Das löste ein Gespräch über das Klischee aus, dass Spanier*innen sehr scharf essen würden. Sie war quasi der atmende Beweis dafür, dass das nicht stimmte. Ich fand die Salami kein bisschen scharf und war verwundert, dass sie so litt, fand das ehrlich gesagt sogar ein bisschen übertrieben. Also vielleicht stimmt das ja sogar, dass man „bei uns“ sehr scharf isst und ich es deshalb nicht mal merke?

Man wird doch nicht gleich krank, sobald man das Wort Rassismus hört

Vorurteile sind nicht gleich Rassismus, oft sind sie harmlos. In vielen Fällen existieren sie aber nicht losgelöst von rassistischen Strukturen. Was diese Strukturen angeht, muss sich die deutsche Gesellschaft dringend sensibilisieren.

Aushalten wollte er das nicht

Nach dem ersten Tag eines zweitägigen Workshops sitzen wir an einem großen Tisch in einem italienischen Restaurant. Alle am Tisch schreiben beruflich, journalistisch wie künstlerisch. Wir haben einen Stargast – ein Schauspieler, der zum Abendessen eingeladen wurde. Er spricht laut, sodass ihn alle hören können. Er ist nicht weiß, sein Gegenüber schon. Der Stargast fragt sein Gegenüber, ob er auch mal mit nicht-weißen Menschen befreundet sei. Er verneint. Stargast sagt dann, das sei struktureller Rassismus, wenn weiße Deutsche nur weißdeutsche Freund*innen hätten. Sein Gegenüber steht auf, verlässt das Restaurant, meldet sich am nächsten Tag krank und kommt nicht mehr zu dem Workshop, der von Feinheiten der Berichterstattung zur Migration handelt.

Ich habe kein Mitgefühl mit ihm, ich denke: Man wird doch nicht gleich krank, sobald man das Wort Rassismus hört, vor allem an einem Tisch mit einigen Menschen, die mit Rassismus leben müssen. Menschen, die täglich betroffen und kollektiv traumatisiert werden, weil NSU, weil Solingen, weil Rostock-Lichtenhagen, weil NSU 2.0, weil Halle, weil Hanau, weil Debatten über sterbende Flüchtende an der Grenze der Europäischen Union, weil Menschen, die abgeschoben werden, nachdem sie jahrelang in Deutschland leben… Da kann man es doch als nicht-betroffene Person aushalten, wenn Betroffene über Rassismus reden, wenn alles, was nicht-betroffene Menschen machen müssen, bloß das Zuhören auszuhalten ist. Aushalten, was die anderen zerstört. Und nicht einmal das wollte er.

Parallelgesellschaft wird oft so verstanden und verwendet wie eine Sub-Gruppe aus Minderheiten, die sie freiwillig gründeten, eine Art Paralleldimension, ein Upside-Down mit eigenen Gesetzen und Regeln. Klingt schön exotisch. In der Realität geht es dabei bloß darum, dass wir unterschiedlich wohnen und arbeiten. Dass migrantische und migrantisierte Gruppen überwiegend in politisch vernachlässigten Orten leben, weil sie sich nichts Besseres leisten können, weil ihnen nur Jobs gegeben werden, die viele andere nicht machen möchten. Natürlich ist es struktureller Rassismus, dass wir uns kaum kennen. Wir leben in unterschiedlichen Welten, Deutschland ist segregiert.

Eine gute Frage

Oft fragen mich weiße Menschen: Was kann ich machen? Wie kann ich helfen? Es ist gut, diese Frage zu stellen, auch wenn sie jede Person anders beantworten könnte. Für mich lautet der erste Schritt: Umsehen lernen. Viele Betroffene beschreiben die Welt, in der wir leben, sei es in Social Media, in Artikeln, Büchern oder Filmen. Ein erster Schritt kann daher sein: Ihre Inhalte konsumieren, über diese nachdenken, sie teilen und verbreiten, mit anderen Menschen, die nicht betroffen sind, darüber reden, sich und andere sensibilisieren. Minderheiten nicht mit Fremdzuschreibungen belasten, egal ob diese „positiv gemeint“ sein sollen, sondern zuhören, verstehen und respektieren. Das ist für mich der erste Schritt, aktiv Verantwortung zu übernehmen. Denn hier geht’s nicht nur darum, ob wir scharf essen oder nicht. Es geht um Existenzen, und im Großen und Ganzen geht es um die Erde.

Zu viert sitzen wir in Taksim auf einem Dach, es ist ein warmer Sonnenuntergang, vor uns liegen endlos Dächer, über denen Möwen schreiend fliegen, hinter den Dächern der Bosporus. Wir trinken Bier, machen Selfies, rauchen Zigaretten, lachen, teilen… Ich erzähle, dass vergangenes Jahr mein Cousin verstarb, ich nicht zu seiner Beerdigung fliegen konnte und Tausende Kilometer von meiner Familie entfernt alleine trauern musste. Meine Freundin sagt: „Bei euch wird sehr lange getrauert.“

Fragen? Lob? Kritik? Du erreichst die Redaktion unter blog@campact.de

Ihre Aussage über scharfes Essen fand ich harmlos, aber das tut weh. Weil ich mich verletzlich mache und verletzt werde. Weil ich in einem Raum, den ich für sicher hielt, plötzlich merke, doch nicht in Sicherheit zu sein. Weil ich mich schmerzhaft in den Mittelpunkt gestellt und zu der Anderen gemacht fühle. Ich denke an kurdische Eltern, deren Trauer kriminalisiert wird. Eltern, die nicht wissen, wo der Leichnam ihrer Kinder liegt. Eltern, denen die Reste ihrer Kinder per Kurier in Kisten geliefert wird, und Eltern, denen die Reste ihrer Kinder in Nylontüten gereicht werden. Ja, manchmal trauern Kurd*innen länger. Ich frage sie, ob Türk*innen nicht trauern würden, wenn ihre Liebsten sterben. Alle drei fangen an, durcheinander zu sprechen, ich höre ein kollektives „Ja, natürlich, klar, selbstverständlich“. Von diesem Treffen bleibt mir vor allem ein erstickendes Gefühl zurück. Und ich erwische mich immer wieder dabei, wie ich mir selbst sage: Ich bin schon Schlimmeres gewohnt.

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Autor*innen

Sibel Schick kam 1985 in Antalya, der Türkei, auf die Welt und lebt seit 2009 in Deutschland. Sie ist Kolumnistin, Autorin und Journalistin. Schick gibt den monatlichen Newsletter "Saure Zeiten" heraus, in dem sie auch Autor*innen, deren Perspektiven in der traditionellen Medienlandschaft zu kurz kommen, einen Kolumnenplatz bietet. Ihr neues Buch „Weißen Feminismus canceln. Warum unser Feminismus feministischer werden muss“ erscheint am 27. September 2023 bei S. Fischer. Ihr Leseheft "Deutschland schaff’ ich ab. Ein Kartoffelgericht" erschien 2019 bei Sukultur und ihr Buch "Hallo, hört mich jemand?" veröffentlichte sie 2020 bei Edition Assemblage. Im Campact-Blog beschäftigte sie sich ein Jahr lang mit dem Thema Rassismus und Allyship, seit August 2023 schreibt sie eine Kolumne, die intersektional feministisch ist. Alle Beiträge

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