Klassenkampf Klassismus
„Die Rache der Unterschicht“
Eine bürgerliche Kolumne über Klassismus - ist das verdient oder ein Verrat? Zum Start ihrer Klassismus-Reihe im Campact-Blog stellt sich unsere Autorin dieser Frage.
“Katharina, du bist die Rache der Unterschicht”, entgegnet mir Cindy, als ich ihr von meinem aktuellen Arbeitsprojekt erzähle. 2018 – wir sitzen am WG-Tisch, trinken Rotkäppchen aus der Flasche und sprechen über unsere soziale Herkunft. Cindy: brandenburgisches Dorf, Vater Elektriker, Mutter angestellt. Dies das. Die Erste der Familie mit Studium, genau wie bei mir. Ich: ostdeutsche Kleinstadt, Eltern: Lumpenproletariat, wie es Karl Marx im “Kapital” nennt – der schmutzige Teil der Arbeiterschicht, die ohne Arbeit.
“Asoziale” – so hieß es in der DDR und nach der Wiedervereinigung in den Talk-Shows. Nicht minder verächtlich spricht man dort heute immer wieder von der “Unterschicht”. Im konkreten im Fall meiner Familie geht es um “Wendeverlierer”, sagt mein Soziologie-Prof. Also was nun genau? Mutti: die meiste Zeit ihres Lebens ohne Arbeit – “langzeiterwerbslos”, on and off Reinigungskraft. Stiefvater: DDR-Fabrikarbeiter, nach der Wende Mülllader.
Cindy und ich lernen uns im Studium kennen. Unser Verlauf ist in manchem ähnlich: Studieninhalte fallen eher leicht, schwerer ist oft das Einpassen in die neue soziale Umgebung. Nicht ganz aus Spaß sage ich manchmal, ich musste dreimal Deutsch lernen in meinem Leben – einmal als Muttersprache, dann beim Abi ohne ostdeutschen Dialekt, ein drittes Mal im Studium frei von Soziolekt, kurz “Unterschichtensprech”.
Cindy steht da drüber
Letzteres legt mir eine Kommilitonin nahe, als sie mich gleich zu Beginn des ersten Semesters entsetzt darauf hinweist: “Katharina, du sprichst ja wie die Leute aus dem Fernsehen, die aus den Shows auf RTL2 …” Darauf kommt es jetzt also an, dachte ich mir damals und spreche seitdem bürgerlicher, akademischer und frei von Füllwörtern wie “übelst” und “krass”. Meine soziale Heimat hört und sieht man mir fortan nicht mehr an. Und das Rezept geht auf, auch bei Cindy: Studienende nach zehn Jahren, sechs davon mit Lohnarbeit bei Rewe an der Kasse, Langzeitsemestergebühren und Studienschulden. Cindy ist trotz Abschluss bis heute an der Kasse geblieben, zum unberechtigten Unmut und manchmal ehrlich gemeinter Sorge einstiger Studienkolleg:innen. Auch ich habe mich mehrfach dabei erwischt – Klassenaufstieg schützt nicht vor Klassismus.
Cindy steht da drüber und zu ihrem Lebensweg. Ich hingegen bin nun so genannte Klassenaufsteigerin mit angefangener Promotion in Princeton und Berlin. Ein steiniger, aber ordentlicher Verlauf, glaubt man den gleichen Stimmen, die Cindys Weg nicht verstehen können. Ein Verlauf, der zu meiner eigenen Überraschung aber vor allem eins bewirkte: Mein fast zwanghaftes Sinnieren und Schreiben über “Klasse”, Arbeiter- und “Unterschicht”.
“Ja, aber genau das ist doch Verrat!” Man müsse die eigene soziale Herkunft verlassen, um darüber zu schreiben und zu publizieren, sagt mir ein anderer Autor auf einem Podium über “Klasse und Schreiben”. Er schreibt selbst über seine soziale Herkunft und fühle sich manchmal wie ein Verräter. Erst sein sozialer Aufstieg ermöglichte ihm das Schreiben, fährt er fort. Seine Argumente sind gut und bringen mich zum Nachdenken: Du musst dich abwenden von dem, wer und wie du warst. Von der Sprache, dem Habitus, den Gepflogenheiten, den Normalitäten, um genau das wiederum zum Objekt deines Schreibens zu machen.
Verdienst oder Verrat?
Ja, der Akt des Schreibens selbst, egal ob akademisch oder literarisch, steht doch im starken Kontrast zur so genannten Arbeiterklasse und noch stärker zur eigenen “Unterschichten”-Biografie. Von der Möglichkeit zu publizieren gar nicht erst angefangen. Im Endeffekt schreibt man ja auch aus einer nun bürgerlichen Positionierung und Lebensweise für ein gleichermaßen bürgerliches Publikum.
All das hallt in meinen Gedanken seitdem nach und duelliert sich mit meinem Gefühl, nicht loslassen zu können und zu wollen. Ich habe erst vor einigen Jahren meinen Frieden gefunden mit meiner sozialen Herkunft und dem Stigma, das ihr anhängt. Aber ich halte nichts von Erzählungen, die das romantisieren. Also was nun konkret? Ist es möglich, über Klassismus zu schreiben, ohne die eigene soziale Herkunft zu verraten? Braucht es vielleicht sogar den Abstand und die Ressourcen, die mit sozialen Aufstieg einhergehen, um darüber zu schreiben? Oder ist das nur eine Rechtfertigung und der Versuch eines richtigen Schreibens im Falschen? Ist es Verrat oder Empowerment, dran zu bleiben? Braucht es überhaupt eine bürgerliche Kolumne über Klassismus? Und was kann sie bewirken? – Keine Ahnung.
Aber es gibt viel zu erzählen, zu analysieren, mit Stigmata zu brechen. Und in Momenten des Zweifels ermutigen mich die Worte meiner Freundin Cindy: “Die Rache der Unterschicht”. Ein Ritterschlag – keine Frage. Aber verdient oder doch nur Verrat? Wir werden es sehen!