Datenschutz
Vorratsdatenspeicherung stoppen? Jetzt oder nie!
Geht es endlich voran beim Thema Vorratsdatenspeicherung? Aktuell sieht es so aus. Aber: Wenn sich in diesem Herbst nichts ändert, dann wahrscheinlich gar nicht.
In diesen Tagen verhandeln Justizminister Marco Buschmann (FDP) und Innenministerin Nancy Faeser (SPD) einen Gesetzentwurf, der endlich den politischen Kurs beim Thema Vorratsdatenspeicherung korrigieren kann. In dem seit mittlerweile mehr als 15 Jahren wiedergekäuten Streit um die staatlich verordnete Speicherung von Telefon-, Standort- und Internetverbindungsdaten der kompletten Bevölkerung gehören diese Tage definitiv zu den spannendsten und entschiedensten. Denn in diesem Herbst ist eine Lösung möglich.
Boxkampf gegen Grundrechte
Die Europäische Union hatte 2005 mit einer Richtlinie den Regierungen ermöglicht, Kommunikationsdaten pauschal und flächendeckend von allen Bürger:innen speichern zu lassen. Mit diesen Milliarden von Datensätzen ließe sich verfolgen, wer wann wo mit wem Kontakt hatte und wer welche Internetseite besucht oder App genutzt hat. Neun Jahre später hat der Europäische Gerichtshof diese Richtlinie kassiert, weil sie, wie Kritiker:innen vorhergesagt hatten, klar gegen EU-Recht verstieß. Einige Regierungen, wie in Belgien, wollen das bis heute nicht einsehen, und versuchen immer wieder anlasslose, flächendeckende Speicherung von Kommunikationsdaten aller Bürger:innen durchzudrücken. So boxen sich also seit Jahren Regierungen und Strafverfolgungsbehörden vor Gerichten mit ihren eigenen Verfassungen und Grundrechten und holen sich dabei unermüdlich eine blutige Nase.
Zuletzt hat der EU-Gerichtshof im September dieses Jahres zum vierten Mal gebetsmühlenartig wiederholend erklärt, dass „Alles von Allen“-Speichern in Demokratien nicht geht. Aber auch die Gegnerschaft von Massenüberwachung hat dabei Treffer kassiert, denn das Gericht hat mehrere sehr weitgehende Ausnahmen zugelassen, die Massenüberwachung – sogar anlasslos – erlauben. Jetzt wird darüber gestritten, welche dieser Ausnahmen wie genutzt werden soll, denn nicht alles, was legal ist, ist sinnvoll.
Speichern, wenn es einen Anlass gibt
Justizminister Marco Buschmann will eine dieser vom EU-Gericht eröffneten Ausnahmen nutzen – das sogenannte Quick-Freeze-Verfahren. Dabei werden bei Verdacht und mit richterlicher Erlaubnis Standort- und Verbindungsdaten eingefroren, damit sie später in einem möglichen Ermittlungsverfahren genutzt werden können. Quick Freeze respektiert das rechtsstaatliche Prinzip der Unschuldsvermutung, denn es wird nur gespeichert, wenn es dazu einen Anlass gibt.
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Innenministerin Nancy Faeser (SPD) will eine andere Ausnahme nutzen. Sie will eine sogenannte anlasslose IP-Vorratsdatenspeicherung, bei der pauschal, ohne Verdacht, Internet-Protokoll-Adressen aller Bürger:innen für eine bestimmte Zeit gespeichert werden. Das Prinzip der Vorratsdatenspeicherung hebelt die Unschuldsvermutung aus und stellt die gesamte Bevölkerung unter Generalverdacht, weil Daten von allen gespeichert werden, obwohl nur wenige Einzelne schwere Straftaten verüben.
Die Systemfrage
In Deutschland genießen wir das Privileg eines weitgehend zensur- und überwachsungsfreien Internets. Wie wir Menschen helfen können, die von Zensur betroffen sind, liest Du hier:
Der Unterschied zwischen beiden Vorschlägen ist – zugespitzt gesagt – die Systemfrage: ermittelnder Rechtsstaat oder autoritärer Überwachungsstaat. Das klingt drastisch und erscheint im Vergleich zu anderen überwachungseifrigen Staaten übertrieben. Es ist aber tatsächlich so, dass Vorratsdatenspeicherung genau aus diesem Grund so vehement abgelehnt wird. Wenn sich Regierungen nicht klar gegen das Prinzip der anlasslosen Speicherung stellen und aktiv einen anderen Weg gehen, werden in Deutschland aber auch in der Europäischen Union über kurz oder lang immer weitere demokratische, freiheitliche und rechtsstaatliche Grundwerte aus dem politischen Repertoire unwiederbringlich verloren gehen.
Im Koalitionsvertrag hatten sich SPD, Grüne und FDP bereits von der anlasslosen Vorratsdatenspeicherung verabschiedet. In den vergangen Wochen rüttelten aber Teile der SPD an dem Vertrag. Einige Abgeordnete wollen nun „Spielräume“ des EU-Gerichtshofs nutzen und am Prinzip der anlasslosen Überwachung festhalten. Diese „Spielräume“ sind in Wahrheit aber die absoluten Grenzen dessen was gerade noch so mit EU-Recht vereinbar ist. Jede Regierung sollte sich von diesen Grenzen so weit wie möglich entfernt halten. Beim Thema Vorratsdatenspeicherung ist das problemlos möglich, weil es bessere Alternativen gibt. Der Bereich der Massenüberwachung jedenfalls ist kein „Spielraum“.
Die richtige Lösung: Direkter Kinderschutz
Die wirklichen Lösungen sind problemorientiert zu suchen. Wenn Kinderschutz das Ziel ist, dann muss die Zivilgesellschaft in diesem Bereich unterstützt werden, es braucht Kinderschutzbeauftragte, Schutzkonzepte an Schulen, in Sportvereinen und Kirchen, gezielte Ermittlungen und intensive gesellschaftliche Aufklärung, um Straftaten zu verhindern. Warum ist hier in den letzten 15 Jahren so wenig passiert?
Was kommt also im Herbst auf uns zu? In den nächsten Wochen wird der Gesetzentwurf veröffentlicht, federführend ist das Justizministerium von Marco Buschmann. Jetzt kommt es darauf an, wie sich die SPD positioniert. Sie könnte sich hinter Marco Buschmann stellen und nach mehr als 15 Jahren Streit das alte Prinzip der anlasslosen Massenspeicherung von sensiblen Kommunikationsdaten überwinden. Sie könnte gleichzeitig ein Paket für direkten Kinderschutz aufsetzen. Beides wäre ein dringend nötiges Signal auch an andere Regierungen in der Europäischen Union, endlich einen Kurs einzuschlagen, der klar und grundlegend dem von Überwachungsregierungen entgegensteht. Wenn das Prinzip der anlasslosen Vorratsdatenspeicherung nicht in diesem Herbst gestoppt wird, dann wahrscheinlich nie.