Antirassismus Erinnern
9. November oder: Warum Erinnern wichtig ist
Gedenktage wie der 9. November heute sind wichtige Momente des Innehaltens. Denn wie wir mit der Vergangenheit umgehen, das bestimmt auch unser Leben jetzt und in der Zukunft.
Seitdem ich in Berlin lebe, begegnet mir ständig Geschichte: Wenn ich mit dem Fahrrad vom Norden der Stadt zu Freund*innen in den Süden fahre, komme ich erst am Reichstagsgebäude vorbei, dann am Holocaust-Mahnmal und schließlich radle ich über den Checkpoint Charlie. Beim Radfahren kann ich nachdenken: Über anstehende Verabredungen oder Dinge, die ich noch erledigen muss. An die Bedeutung der Orte, an denen ich vorbeifahre, denke ich dabei meistens nicht: Die Ausrufung der Republik, die Shoah, den Fall der Berliner Mauer. Die Erinnerung geht unter im Strudel des Alltags zwischen Arbeit, Freizeit und aktuellem politischen Geschehen.
Genau deshalb sind Gedenktage so wichtig – wie der 9. November heute: Als Momente des Innehaltens, als Bruch im Alltag. Nur wenn wir uns Zeit nehmen für Erinnerung, können wir aktuelle Politik, Kultur, ja die ganze Gesellschaft, in der wir leben, wirklich verstehen. In dem Land, von dem im 20. Jahrhundert so unfassbarer Schrecken ausgegangen ist, tragen wir eine besondere Verantwortung dafür. Geschichte muss lebendig bleiben, damit sie sich nicht wiederholt. Meine Kollegin Victoria Gulde und ich werden deshalb hier im Campact-Blog einmal im Monat einen Gedenktag hervorheben. Zusammen mit euch wollen wir innehalten, erinnern und einordnen. Heute geht’s los.
Was am 9. November passiert ist
Der 9. November wird oft als „Schicksalstag der Deutschen“ bezeichnet. Denn es ist ein Tag, an dem in der Geschichte immer wieder Ereignisse stattgefunden haben, die Auswirkungen auf das Schicksal aller Menschen in Deutschland hatten:
- 1848 wird Robert Blum von den kaiserlichen Truppen in Wien erschossen; es ist der Anfang vom Ende der Märzrevolution.
- 1918 flieht der deutsche Kaiser – unter dem Druck von streikenden Arbeiter*innen, von Arbeiter*innen- und Soldatenräten in immer mehr Städten und einer Massendemonstration in Berlin. Philipp Scheidemann und Karl Liebknecht rufen, jeweils und in Konkurrenz zueinander, die Republik aus; es ist das Ende des deutschen Kaiserreichs, das Ende des 1. Weltkriegs und der Beginn der Weimarer Republik.
- 1923 zettelt Adolf Hitler, frisch gekürter Vorsitzender der NSDAP, in München einen Putsch an; dieses Mal scheitert sein Versuch der Machtergreifung noch, zehn Jahre später dann wählen die Deutschen ihn zum Kanzler.
- 1938 beginnt am Abend des 9. November die Reichspogromnacht, Nazitruppen von SA und SS zerstören 7500 Geschäfte, 1400 Synagogen werden in Schutt und Asche gelegt, mindestens 91 Menschen ermordet und 30.000 Jud*innen werden in den Folgetagen verhaftet und in Konzentrationslager gebracht; 6 Millionen jüdische Männer, Frauen und Kinder ermorden die Nazis im Holocaust bis 1945.
- 1989, ebenfalls am Abend, überqueren Menschen aus der DDR zu Tausenden die Grenze zur BRD. „Ab sofort“ hatte Politbüro-Mitglieds Günter Schabowski zuvor bei einer Pressekonferenz geantwortet auf die Frage, ab wann die neue Reiseregelung für DDR-Bürger*innen in Kraft trete. Der Fall der Berliner Mauer ist ein Grund zu feiern! Mit dem Ende der DDR beginnt aber auch die Zerschlagung der Wirtschaft im Osten, die Privatisierungen der Treuhandanstalt resultieren in Massenarbeitslosigkeit und sozialen Ungleichheiten, die bis heute andauern.
9. November 1918, 38, 89: Diese drei Daten musste ich in der Schule auswendig lernen – und die Begriffe dazu: Novemberrevolution, Reichspogromnacht, Wende. Aber erst viel später habe ich verstanden, wie wichtig diese Erinnerung ist; und wie zerbrechlich. Der Antisemitismusforscher Max Czollek beschreibt, wie das Abschütteln der Erinnerung, die Normalisierung des Schreckens der Nazizeit, einhergeht mit zunehmendem Nationalismus, mit rassistischem und antisemitischen Gedankengut – was sich dann ganz konkret widerspiegelt in Wahlergebnissen für die rechtsradikale Partei AfD mit ihrer „Vogelschiss„-Rhetorik.
Geschichte als Spiegel der Gegenwart
Was hätte ich damals getan? Hätte ich Widerstand geleistet wie Sophie Scholl? Hätte ich meine jüdische Nachbarin versteckt und vor der Deportation geschützt, wie Miep Gies es für Anne Frank getan hat? Diese Frage stelle ich mir oft an einem Tag wie heute. Wenn Politiker*innen vom „deutschen Schicksalstag“ sprechen am 9. November, dann klingt das, als sei der schreckliche Verlauf der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert unabwendbar gewesen, als hätte alles genau so kommen müssen. Aber die Menschen hätten nicht daneben stehen und applaudieren müssen, als SA- und SS-Männer jüdische Geschäfte, Wohnhäuser und Synagogen plünderten und brandschatzten. Die Konzentrationslager und Gaskammern, das war kein vorgeschriebener Pfad der Geschichte.
Das, was heute in Geschichtsbüchern steht, das haben mal Menschen gemacht, sie haben das, was heute Geschichte ist, aktiv gestaltet durch ihr Tun oder Nichttun. So wie wir heute die Geschichte von morgen gestalten durch das, was wir tun oder nicht tun. Genauso wichtig wie das Erinnern ist es deshalb an einem Tag wie heute, sich in der Gegenwart umzuschauen: Nach Ungarn, wo der Regierungschef offen rassistisches Nazivokabular verbreitet; nach Italien, wo Bilder des Diktators Mussolini in Regierungsgebäuden hängen. Und hier nach Deutschland, nach Mecklenburg-Vorpommern, wo Rechtsextreme eine Unterkunft von ukrainischen Geflüchteten mit Hakenkreuz beschmiert und angezündet haben. „Wehret den Anfängen!“ Das darf nicht einfach nur ein geflügeltes Wort bleiben. Zivilcourage, Menschlichkeit und klare Kante gegen Rechts, das muss antifaschistische Alltagspraxis sein, bei allen demokratischen Parteien, aber auch bei allen Menschen in diesem Land!
Aktives Erinnern und Handeln
Heute, am 9. November, bieten viele jüdische Gemeinden und antifaschistische Organisationen Gedenkfeiern zur Reichspogromnacht an, oft gibt es auch Stadtrundgänge oder Demonstrationen. Wenn du kannst: Nimm dir die Zeit und schau nach, welche Orte des Erinnerns es in deiner Stadt gibt: Einen Stolperstein vielleicht oder eine Gedenktafel. Ich werde heute kurz anhalten, wenn ich am Holocaustmahnmal vorbeifahre. Und dann noch einen Schlenker machen zu der goldglänzenden Kuppel der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße. Sie hat den Brandanschlag 1938 überstanden. Doch vor der Synagoge stehen heute zwei Polizeibeamte und halten Wache, wie an jedem Tag. 84 Jahre nach der Reichspogromnacht sind Synagogen in Deutschland immer noch nicht sicher. Sie werden zum Ziel rechter Terrorangriffe, wie am 9. Oktober 2019 in Halle.
„Ihr tragt keine Schuld für das, was passiert ist, aber ihr macht euch schuldig, wenn es euch nicht interessiert.“
Esther Bejerano
Das hat die Auschwitz-Überlebende Esther Bejerano stets gesagt, wenn sie, unermüdlich in ihrem Einsatz gegen das Vergessen, mit Schüler*innen und jungen Menschen gesprochen hat, immer wieder, bis zu ihrem Tod im vergangenen Jahr. Jetzt ist es an uns, das Gedenken aufrechtzuerhalten – und uns aktiv auf die Seite von Demokratie, Freiheit und Menschenrechten zu stellen: gegen Rassismus, Geschichtsrevisionismus und Menschenfeindlichkeit im hier und jetzt. Nicht als Schuld, sondern als Verantwortung.
PS: Aus der Vergangenheit lernen, das bedeutet auch, Gedenken zu dekolonialisieren. Also: Auch über den europäischen Tellerrand hinaus zu schauen und auch derer zu gedenken, deren Namen nicht in den Geschichtsbüchern unserer Schulzeit standen. Deshalb hier noch ein Hinweis auf den morgigen Tag: Am 10. November 1995 erging das Todesurteil über Ken Saro Wiwa und acht seiner Mitstreiter: Sie wurden am Galgen erhängt. Das „Verbrechen“ des nigerianischen Schriftstellers, Aktivisten und Trägers des Alternativen Nobelpreises: Er hatte sich mit der Ölindustrie in Nigeria angelegt, allen voran mit dem Konzern Shell. Unter vorgeschobenen Vorwürfen wurde er von der nigerianischen Militärregierung in einem Schauprozess zum Tode verurteilt. Lasst uns morgen auch Ken Saro Wiwas gedenken!