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Was an der Debatte über Hunger schief läuft

In dieser Woche kamen die Regierungen der G20 auf Bali zusammen. Auf ihrer Agenda stand auch der Kampf gegen den Hunger, das Thema ist in den Medien. Nur: Die Debatte läuft total schief – und droht, wieder einmal von der Industrie gekapert zu werden. Was Spekulant:innen, Lobbyist:innen und Schweine mit dem Hunger zu tun haben.

Ein Weizenfeld in der Sonne. Im Hintergund ist unscharf ein Mähdrescher zu erkennen. Getreide, um jeden Menschen ausreichend zu ernähren, gibt es eigentlich genug. Es kommt nur nicht dort an, wo es benötigt wird um den Hunger zu stillen.
Weizenernte in Deutschland. Nahrung, um alle Menschen ausreichend zu ernähren, gibt es eigentlich genug – doch nicht alle bekommen etwas ab. Foto: IMAGO

Man muss diese unfassbare Zahl einsinken lassen: 830 Millionen Menschen hungern akut, so viele wie noch nie. Darüber sprachen lange nur diejenigen, die sich damit beschäftigten. Erst seit dem russischen Überfall auf die Ukraine ist das Thema wieder auf der großen Agenda. Zurecht. Denn Russland und die Ukraine sind wichtige Exportländer für Getreide oder Kunstdünger. Und die Vermutung liegt nahe, dass Machthaber Putin diesen Umstand ausnutzt, als Waffe in seinem aussichtslosen Krieg.

Im Gezerre, welches Schiff wann aus welchem Hafen noch auslaufen darf, gerät aber aus dem Blick: Schon in den Jahren vor dem Krieg haben sich Hunger und Mangelernährung weltweit zugespitzt – der Krieg kam „nur“ obendrauf.

Es ist genug für alle da

Das Paradox ist: Es gibt weitaus genug Nahrung, um jeden Menschen ausreichend zu ernähren. Das stellen die Vereinten Nationen immer wieder fest. Das Problem ist nur: Längst nicht jede:r bekommt was ab. Dabei spielt Krieg eine große Rolle – in der Ukraine wie auch anderswo. Dazu kommen Lieferketten, die schon während der Corona-Pandemie abgerissen sind.

Das Problem geht aber tiefer. Selbst wenn zum Beispiel Getreide ankommt, landet es oft am falschen Ort – in den Tierfabriken. Nur ein Viertel des globalen Agrarlandes liefert Nahrung direkt für Menschen. Die restlichen drei Viertel landen in den Trögen der Tiere (und teilweise auch als Agrosprit in den Tanks unserer Autos). Deren Produkte liefern aber umgekehrt nur ein Viertel der Kalorienversorgung der Menschheit. Die vielen Nutztiere auf dem Planeten, die Fleisch und Milch für die globale Mittelschicht produzieren, fressen das Essen weg.

Auf Hunger spekuliert

Was den Zugang zu vorhandener Nahrung weiter einschränkt, ist der Preis. Und da sind wir bei einer weiteren Problematik, die viele gern totschweigen: der Spekulation mit Nahrungsmitteln. In den Wochen nach dem russischen Einmarsch flossen Milliarden Euro in Fonds, die in Nahrungsmittel investieren. Die Logik: Alle rechneten damit, dass der Krieg Nahrungsmittel verknappen würde. Anleger wetteten auf steigende Kurse. Und diese Wetten trieben die Preise für Nahrungsmittel weiter in die Höhe. Ob die hohen Preise tatsächliche Knappheit abbilden, daran gibt es erhebliche Zweifel.

Denn ein Großteil des globalen Getreidehandels teilen sich vier große Konzerne untereinander auf: die berüchtigten ABCD (Archer-Daniels Midland, Bunge, Cargill und Dreyfus). Und niemand weiß, was sich in deren Lagerhäusern an Vorräten auftürmt. Solange die Börsen auf steigende Preise wetten, gibt es für die vier Großkonzerne einen Anreiz, ihre Vorräte weiter zu lagern und erst zu verkaufen, wenn die Preise noch höher gestiegen sind. Ob das stimmt, kann niemand genau sagen – und eben das ist das Problem: Die Nahrungsmittelmärkte sind extrem intransparent.

Die Pestizid-Lüge

foodwatch hat eine Aktion gegen das Geschäft mit dem Hunger gestartet – unterzeichne hier gegen die Spekulation mit Nahrungsmitteln!

Der Krieg war nur wenige Tage alt, da forderte der Bauernverband bereits, das bisschen Agrarwende, das die EU sich traut, zu hinterfragen. Seitdem heißt es immer wieder: Die Pläne der EU-Kommission, den Ackergift-Einsatz zu reduzieren, müssten dringend gestoppt werden. Schließlich sei ohne Pestizide ja die Produktivität der Landwirtschaft in Gefahr.

Das ist eine ziemlich kurzfristige Betrachtung. Zwar mag ein Ackergift den Ertrag um ein paar Punkte steigern. Aber kaum etwas bringt die Produktivität landwirtschaftlicher Flächen langfristig so sehr in Gefahr wie die vielen Tonnen Pestizide, die Landwirte weltweit Jahr um Jahr auf die Felder kippen. Pestizide zerstören die Artenvielfalt, sie laugen die Äcker aus. Insektensterben und Bodenschwund bedrohen die Nahrungsmittelversorgung in den kommenden Jahrzehnten viel stärker, als Pestizide heute nützen. Die Rechnung bezahlen unsere Kinder, deren Planet dann schlicht nicht mehr so viel Nahrungsmittel wird produzieren können. Die Pestizide von heute sind die Hungersnöte von morgen.

Mich erinnert die Diskussion um die Pestizide tatsächlich ein wenig an schwere Drogensucht. Seit Jahren steigt der Konsum – zwischen 1990 und 2007 ist die Menge der weltweit verwendeten Pestizide allein um 80 Prozent gestiegen. Der Stoff wird immer giftiger. Als das gefährliche DDT Insektizid verboten wurde – von vielen zurecht als großer umweltpolitischer Fortschritt gepriesen – traten die Neonikotinoide sein Erbe an. Diese Wirkstoffe sind 7000 mal giftiger, sie sind auch für Bienen hochgefährlich.

Und wenn eine Krise kommt, heißt es: Nimm mehr davon. Das wird dir helfen.

Dabei würde doch niemand bei schwerer Sucht raten: Erhöh einfach die Dosis. Die einzige Alternative ist: Wir müssen runter von dem Zeug. Foodwatch hat vor einiger Zeit eine Studie veröffentlicht, in der wir zeigen, dass das geht. Eine Welt ohne Pestizide ist denkbar und machbar. Mit einem klaren Ausstiegsplan bis 2035, verbunden mit einem Umbau unserer landwirtschaftlichen Produktionsweise, könnten wir uns aus der lange gelebten Abhängigkeit befreien.

Hast Du Fragen, Anmerkungen oder Feedback zum Campact-Blog? Schreib uns eine E-Mail an blog@campact.de!

Wem ernsthaft an einer Lösung des Hungerproblems gelegen ist, der darf nicht nur – natürlich völlig zurecht – auf den Ukraine-Krieg verweisen. Der muss die Pestizid-Propaganda der Chemiekonzerne vom Tisch wischen, der muss exzessive Spekulation verhindern. Und der muss anerkennen, dass wir unsere landwirtschaftlichen Erträge schlicht falsch verteilen. Sonst wird die Debatte schnell unehrlich.

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Autor*innen

Dr. Chris Methmann ist Geschäftsführer von foodwatch Deutschland. Vorher hat er bei Campact Kampagnen geleitet. Als langjähriger Aktivist und Campaigner in der Klimabewegung streitet er für ein Ernährungssystem, das die Grenzen unseres Planeten endlich respektiert – und setzt sich dafür ein, dass nur ehrliches, gesundes und zukunftsfähiges Essen auf unseren Tellern landet. Alle Beiträge

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