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Lösungsorientiert handeln

Es wird vermehrt darüber gesprochen, dass Gewalt passiert – zum Beispiel jährlich zum Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen am 25. November. Das ist gut, aber wenn nur die Gewalt thematisiert wird, ändert sich nicht genug: Es muss auch über Lösungen gesprochen werden.

Das Foto von Nazife Behramoğlu (Istanbul 2011) zeigt eine Frau, die in einen schwarzen BH und eine schwarze Hose gekleidet auf einer Matratze sitzt, die auf dem Boden liegt. Die Frau hat kinnlange, schwarze Haare, sie sitzt mit dem Rücken zu uns. Neben ihr auf dem Boden stehen ein Glas , ein kleiner Spiegel, ein Aschenbecher und eine kleine Lampe.
Foto: Nazife Behramoğlu, Istanbul 2011

Dieses Jahr zum 25. November, den Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, erhalte ich eine Interview-Anfrage. Mit einer Journalistin einer regionalen Tageszeitung soll ich über Online-Gewalt als eine Gewaltform, die überwiegend Frauen betrifft, sprechen: Was widerfährt mir, was macht es mit mir, wie gehe ich damit um? Und die wichtigste Frage soll lauten: Was können wir dagegen tun? Ich sage zu.

Bei jenen Gewaltarten, deren Ursachen strukturell sind, ähneln sich die Lösungsansätze häufig. In diesem Gespräch ging es zwar konkret um Gewalt gegen Frauen, die kann aber nicht losgelöst von rassistischer Gewalt betrachtet werden. Studien belegen nämlich, dass jene Frauen, die von Rassismus betroffen sind, häufiger und härter von sexistischer Gewalt betroffen sind. Die sexistische Gewalt, der sie ausgesetzt werden, ist nämlich gleichzeitig auch rassistisch. Das Problem gilt übrigens für alle Frauen, die mehrfach marginalisiert sind. Die Gewalt spitzt sich zu, wenn sie neben Sexismus beispielsweise unter Behindertenfeindlichkeit oder Armut leiden.

Diskriminierung sichtbar machen

Es ist wichtig, dass Menschen öffentlich über ihre Diskriminierungserfahrungen sprechen. Das macht die Dimension und den Willkür von Gewalt und Diskriminierung klar. Das macht sichtbar, dass Diskriminierung permanent und überall passiert, und es kann auch vor Augen führen, dass das Problem strukturell ist – auch wenn Menschen, die nicht betroffen sind, nichts mitbekommen. Dabei besteht allerdings die Gefahr, dass man den Eindruck bekommt, dass das Problem alleine durch das Sprechen gelöst sei, so nach dem Motto: „Du hast erzählt und ich habe zugehört, also kann es nicht mehr so schlimm sein.“ Das ist ein Trugschluss: Auch wenn es wichtig ist, eine Grundlage dafür zu verschaffen, dass Menschen ohne Angst über ihre Erfahrungen sprechen können, ändert sich alleine dadurch nichts an den Strukturen, die die Diskriminierung verursachen.

Alle bisherigen Blog-Beiträge von Sibel Schick kannst Du hier lesen.

In den letzten Jahren sprach ich viel und öffentlich über meine persönlichen Erfahrungen. Und anfangs sagte ich ausnahmslos immer zu, wenn ich eine Anfrage zum Thema Online-Gewalt bekam. Mit der Zeit wurde ich allerdings immer skeptischer und hatte immer weniger Lust, weil viele dieser Gespräche nicht lösungsorientiert waren. Sie zeichneten ein Bild des Problems, ohne Lösungsansätze zu liefern. Ich hatte immer stärker das Gefühl, dass ich einem privilegierten Publikum meine Erfahrungen mit Gewalt, Diskriminierung und Verletzungen servieren soll, damit sie diese konsumieren und sich damit ihr Gewissen reinwaschen können, ohne dass sich etwas ändern muss.

Ich erlebte immer noch Diskriminierung, es ging in diesen Gesprächen auch nie darum, wie sich das ändern könnte. Und die Gewalt wurde oft schlimmer, nachdem ich öffentlich sprach, das heißt ich wurde sogar wegen der Öffentlichkeit benachteiligt. Also hörte ich auf, diesen Anfragen zuzusagen. Ich sah schlichtweg keinen Sinn mehr darin, vor allem weil diese Gespräche immer wieder von Vorne losgingen, als hätte man bis dahin noch nichts zu dem Thema geäußert. Sie fühlten sich an wie eine Endlosschleife und ich fühlte mich verdinglicht und alleingelassen.

Über Lösungen sprechen, statt nur über die Gewalt

Inzwischen löse ich das Problem folgendermaßen: Wenn ich gefragt werde, was die ganze Gewalt mit mir macht, liefere ich keine Tränen und zeige keine Wunden, sondern sage einfach: „Das ist irrelevant.“ Und ich fange an, stattdessen über mögliche Lösungen zu sprechen.

Alle Campact-Kampagnen und Aktionen gegen Hass und Gewalt im Internet findest Du hier:

Darüber, dass die Zivilgesellschaft den Sozialstaat in Teilen überflüssig macht und das ein Problem ist. Dass wir mehr Hilfestrukturen für Betroffenen brauchen, die dauerhaft strukturell gefördert werden. Dass die Sicherheitsbehörden sensibilisiert, und permanent unabhängig geprüft werden müssen. Dass wir unabhängige Zwischenstellen zwischen Betreibern und Sicherheitsbehörden brauchen, die verdächtige Inhalte in den sozialen Netzwerken prüfen, bevor diese zur Anzeige gebracht werden und die personenbezogenen Daten von Nutzer*innen in den Sicherheitsbehörden landen, ohne dass es überhaupt feststeht, dass ein Straftatbestand vorliegt. Dass wir aber vor allen Dingen einen Kulturwandel brauchen, wenn wir Diskriminierung nachhaltig bekämpfen wollen. Dass dafür jeder Mensch eine Verantwortung hat, die er beispielsweise durch Zivilcourage oder konkrete Unterstützung der Betroffenen erfüllen kann.

So ungefähr löste ich es auch in dem Gespräch mit der Journalistin, die mich dieses Jahr zum 25. November anfragte. Es war mir ein Anliegen zu sagen: Denkt und handelt lösungsorientiert und zeigt Zivilcourage! Studien belegen, dass beispielsweise im Netz unter einem Post, unter dem viel Hass reproduziert wird, dieser Hass drastisch abnimmt, sobald eine Person Zivilcourage zeigt. Jeder einzelne Mensch hat eine gewisse Verantwortung und jeder Mensch hat einen Handlungsraum. Wenn wir uns nicht einmischen, wenn wir uns nicht ändern, dann ändert sich eben niemand und nichts.

Es ist sehr wichtig, dass Betroffene nicht nur für ihre Erfahrungen, sondern auch für ihre Lösungsansätze den notwendigen Raum bekommen – zum Beispiel wie diese Kolumne, die Du gerade liest, oder eben das Gespräch mit der Journalistin, die mich zum 25. November anfragte. Sie war offenbar ein sensibler und machtbewusster Mensch und bestand nicht drauf, meine Verletzungen zu zentrieren. Das tat gut.

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Autor*innen

Sibel Schick kam 1985 in Antalya, der Türkei, auf die Welt und lebt seit 2009 in Deutschland. Sie ist Kolumnistin, Autorin und Journalistin. Schick gibt den monatlichen Newsletter "Saure Zeiten" heraus, in dem sie auch Autor*innen, deren Perspektiven in der traditionellen Medienlandschaft zu kurz kommen, einen Kolumnenplatz bietet. Ihr neues Buch „Weißen Feminismus canceln. Warum unser Feminismus feministischer werden muss“ erscheint am 27. September 2023 bei S. Fischer. Ihr Leseheft "Deutschland schaff’ ich ab. Ein Kartoffelgericht" erschien 2019 bei Sukultur und ihr Buch "Hallo, hört mich jemand?" veröffentlichte sie 2020 bei Edition Assemblage. Im Campact-Blog beschäftigte sie sich ein Jahr lang mit dem Thema Rassismus und Allyship, seit August 2023 schreibt sie eine Kolumne, die intersektional feministisch ist. Alle Beiträge

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