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R.I.P. Hartz IV – Das neue Bürgergeld kommt, ein Grund zu feiern?

2005 führte die rot-grüne Regierung Hartz IV ein. Die aktuelle will es zum Jahresbeginn abschaffen. Ist das ein Grund zu feiern? Das neue Bürgergeld, das Hartz IV ersetzen wird, wurde die letzten Monate im Bundestag heiß diskutiert. Nun ist es soweit, am 1. Januar tritt das Bürgergeld in Kraft. Bevor wir aber Hartz IV zu Grabe tragen, lohnt sich ein Blick zurück: Was war eigentlich so schlimm am Arbeitslosengeld II? Und warum braucht es ein neues Bürgergeld?

Zwei Ordner mit Aufschrift Bürgergeld und durchgestrichener Aufschrift Hartz IV.
Ade Hartz IV - ab dem 1. Januar gibt es stattdessen das neue Bürgergeld. Foto: Christian Ohde / IMAGO

Grundlegend ist es mir wichtig festzuhalten, dass es ein rieisges Privileg ist, in einem Land mit existenzieller Grundsicherung zu leben. Ich habe zweimal AlGII und einmal AlG I in meinem Leben bezogen. Letzteres fühlte sich auch wie ein Privileg an und gab mir neben existenzieller Sicherheit die Möglichkeit mich im Beruf neu aufzustellen. Dennoch ist Arbeitslosengeld kein Geschenk. Es stammt aus einem Pool, in den alle Steuerzahlenden in Deutschland irgendwann mal eingezahlt haben oder einzahlen werden. Und von dem wir als Gesellschaft schlussendlich alle profitieren. Entgegen hartnäckiger Vorurteile sind die meisten Arbeitslosen nicht gern erwerbslos. Studien zeigen, Arbeitslosigkeit gehen oft biografische Brüche voraus. Häufig leiden Erwerbslose unter psychischen Erkrankungen und Problemen. Nicht selten sind es alleinerziehende Mütter, die sich und ihre Kinder durchbringen müssen.

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Eine finanzielle Grundversorgung im Fall der Erwerbslosigkeit ist aber kein staatliches Gnadengeschenk. Vielmehr stellt es eine wesentliche Brückenleistung dar, an einer Stelle, an der Menschen ohne Unterstützung schnell aus dem sozialen Gefüge brechen würden. Und dabei kann Erwerbslosigkeit jede:n treffen. Das hat zum Beispiel auch die Coronakrise gezeigt, die zum Teil enorme existenzielle Einschnitte, gerade für Menschen in Niedriglohnsektoren, bedeutete. Und wenn man mal von einer humanitären Argumentation absieht, haben solche Einschnitte in die Erwerbsarbeit auch volkswirtschaftliche Konsequenzen. So privilegiert es also auch ist, in einem Land zu leben, in dem es Arbeitslosengeld II gibt, sollte eine Art existenzielle Grundsicherung aber eigentlich ein Grundrecht sein und als solches behandelt werden. Und somit auch auch diejenigen, die es in Anspruch nehmen.

AlG: „Fordern und Fördern“

Aber darin liegt genau die Krux: Schaue ich in meine Erfahrung mit Arbeitslosengeld II, in die Erfahrungen meiner Familie, Freund:innen und anderer Personen, mit denen ich darüber spreche, haben die stets eine Erfahrung gemeinsam: einen Mangel an Würde und Respekt. 17 Jahre nach der Einführung der Hartz-Gesetze, möchte ich behaupten, dass genau das kein Zufall ist. Vielmehr ist es in den Gesetzen selbst angelegt. Mit Hartz IV setzte die rot–grüne Regierung unter Gerhard Schröder die zuvor hartnäckig in den Talkshows gestreuten und in den großen Medien kultivierten Ressentiments gegen Erwerbslose in Gesetze um.

Ganz nach neoliberalen Maximen stand die Einführung von Arbeitslosengeld I und II unter der Losung „Fordern und Fördern“. Arbeitslose sollten nun stärker als zuvor bei der Arbeitsuche unterstützt werden. Gleichzeitig sollte das Bemühen um Arbeit aber auch mit Nachdruck und durch Sanktionieren eingefordert werden. Um das im individuellen Fall besser gewährleisten zu können, bekamen die ausführenden Sacharbeiter:innen mehr Befugnisse und Entscheidungsgewalt. Je nach Sacharbeiter:in kann sich das gut oder schlecht auswirken. Aber wie gut kann sich das auf Betroffene auswirken in einem klassistischen Klima, in dem Erwerbslose und Menschen in Armut aber eh schon stigmatisiert sind und als „Schmarotzer:innen“ und „Betrüger:innen“ diffamiert werden?

Bürgergeld könnte Hartz IV-Stigma auflösen

Statistisch gesehen gingen mit der Einführung von Hartz IV tatsächlich die Arbeitslosenzahlen zurück. Gleichzeitig gelang und gelingt vielen aber dennoch nicht die Reintegration in das reguläre Erwerbsleben. Vielmehr verschwinden Erwerbslosenzahlen, in der Kategorie der „Nichterwerbstätigkeit“. Sie nehmen an Trainings teil, machen einen Ein-Euro-Job, haben sich krank gemeldet oder werden vom Amt als „nicht verfügbar“ eingestuft. Kritiker:innen beklagen zudem bis heute, dass mit Hartz IV Erwerbssuchende prekarisiert werden und sich Armut systematisch zementiert.

Was soziale Initiativen zum neuen Bürgergeld sagen, liest Du in diesem Interview:

Waren Arbeitslose in den 90ern mit dem damaligen Arbeitslosengeld noch in der Mitte der Gesellschaft verortet, bewegen sich Hartz-IV-Empfänger:innen an den Grenzen der deutschen Armutsrisikoschwelle. Viele, so zeigen Studien, bekommen nicht mal diese Regelleistungen oder müssen in zum Teil jahrelangen Auseinandersetzung zäh um den Ausweg aus der Armut kämpfen. Während der Corona-Pademie blieben Erwerbslose die längste Zeit von entsprechenden finanziellen Hilfen unberücksichtigt. Studien zeigen zudem, dass der Großteil aller Arbeitslosengeld-II-Bezieher:innen unter dem Gefühl der sozialen Ausgrenzung leidet. Kontinuierliche Geldnot, das Gefühl nicht die eigenen Fähigkeiten einsetzen zu können und vom Amt unter Druck gesetzt zu werden erzeugen negative Folge, die sich bei Betroffenen und sogar bei ihren Kindern stark bemerkbar machen können.

Und tatsächlich verspricht das neue Bürgergeld genau hier anzusetzen: Neben einer Erhöhung von 53€, einer längeren Karenzzeit, in der zum Beispiel höhere Nebeneinkünfte erzielt werden können und besseren Weiterbildungsangeboten, wirbt es mit dem Slogan „mehr Chancen, mehr Respekt“ und trifft damit Krux der Kritik an Hartz IV. Es bleibt abzuwarten, wie der Gesetzesentwurf genau aussieht 2023 und ob sich mit dem Bürgergeld wirklich mehr Respekt und Würde gegenüber Erwerbslosen und Menschen in Armut einstellt.

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Autor*innen

Katharina Warda ist Soziologin und arbeitet als freie Autorin mit Schwerpunktthemen Ostdeutschland, marginalisierte Identitäten, Rassismus, Klassismus und Punk. Sie ist Beirätin und Jurymitglied verschiedener Projekte, unter anderem 2021 von "Kein Schlussstrich!" – einem bundesweiten Theaterprojekt zum NSU-Komplex, 2022 der Gedenkstätte Amthordurchgang in Gera. In ihrem Projekt Dunkeldeutschland erkundet sie die Nachwendezeit von den sozialen Rändern aus und beleuchtet blinde Flecken in der deutschen Geschichtsschreibung, basierend auf ihren eigenen Erfahrungen als Schwarze ostdeutsche Frau in der DDR und nach 1989/90. Alle Beiträge

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