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Verschwundene Küken

Bestimmt ist es Dir auch schon aufgefallen, als Du im Supermarkt die Regale durchstöbert hast: Auf vielen Eierpackungen stehen Angaben wie "ohne Kükentöten". Tatsächlich ist die grausame Praxis in Deutschland seit einem Jahr gesetzlich verboten. Das Agrarministerium ist darauf mächtig stolz, sieht Deutschland als "weltweiten Vorreiter". Wäre da nur nicht ein kleines Problem.

Das Foto zeigt viele kleine gelbe Küken auf dem Boden einer großen Halle. Der Boden ist mit Erde ausgestreut. An der Decke hängen grell leuchtende Lampen.
Wenn ein Küken "Glück" hat und als Henne geboren wird, darf es in Deutschland weiterleben - und Eier legen ohne Ende. Foto: IMAGO / VWPics

Doch zunächst der Reihe nach: Wie ist man überhaupt auf die Idee gekommen, diese süßen kleinen Küken überhaupt zu töten? Eine Umfrage im Freundeskreis meiner Tochter hat ergeben: Die kleinen Minihühner sind wirklich seeeehr niedlich. Dennoch wurden bis 31. Dezember 2021 jedes Jahr bis zu 45 Millionen männliche Küken direkt nach dem Schlüpfen vergast oder geschreddert.

Chris Methmann ist Geschäftsführer bei foodwatch. Im Campact-Blog schreibt er über Ernährungs- und Agrar-Themen.
Hier liest Du alle seine Beiträge.

Der Grund: Für die Lebensmittelindustrie sind sie wertlos. Sie gehören Zuchtrassen an, die auf hohe Legeleistung optimiert sind. Sie sollen Eier „produzieren“. Was die männlichen Tiere nun einmal nicht tun. Und Fleisch setzen sie auch kaum an. Dafür züchtet man andere Rassen. Für männliche Küken hat die auf Hochleistung getrimmte Agrarwirtschaft eigentlich keine Verwendung.

Schreddern von Küken verboten = Problem gelöst?

Seit Anfang 2022 gilt nun: Das darf kein Grund sein, sie zu töten. Jetzt müssen die „Bruderhähne“ mit aufgezogen werden. Oder, worauf die Industrie hofft: Die männlichen Küken werden schon im Ei erkannt und gar nicht erst ausgebrütet.

Seit einem Jahr ist diese Regelung nun in Kraft. Also hoch die Tassen auf diesen Erfolg für den Tierschutz? foodwatch ist dieser Frage nachgegangen. Wir haben herumgefragt: Wie ist es den männlichen Küken denn nun ergangen? Die überraschende Erkenntnis: Keiner weiß es – oder keiner will es wissen…

Der Lobbyverband der Geflügelindustrie? Kann über den Verbleib der „Bruderhähne“ nur spekulieren. Die zuständigen Behörden? Wissen es nicht. Entsprechende Kontrollen? Finden bisher offenbar nicht statt. foodwatch-Recherchen zeigen stattdessen: Hühner-Betriebe haben mehr als 300.000 Tiere ins Ausland transportiert. Mindestens im Fall einer Brüterei wurden die männlichen Küken dann nicht etwa im Ausland aufgezogen – sondern schlicht dort getötet.

Nachdem wir unsere Recherchen veröffentlicht haben, wachten Wirtschaft und Behörden dann doch irgendwie auf. Und rangen sich zumindest zu halbgaren Statements durch. Das Landesministerium für Landwirtschaft und Verbraucherschutz gab an, dass drei Brütereien in NRW männliche Küken ins Ausland verbringen. Tatsächlich habe einer der Betriebe zugegeben, dass die Hähne dort getötet werden. Der Zentralverband der Geflügelindustrie weiß von Exporten ins Ausland. Die Küken gingen vor allem nach Polen – doch hinter der Grenze erlahmt der Aufklärungseifer der Industrie plötzlich wieder. Was dort passiere, wisse man leider, leider nicht.

Statt auf die EU zu warten: Agrarsystem umbauen

Wenn es derart unangenehm wird, ist oft der Hinweis nicht weit: Da bräuchte es jetzt aber auch eine europäische Regelung. Und… ja stimmt, auch in der Kükendebatte ist Brüssel nicht weit. Alle Befragten sind sich einig: Die EU müsse ran und das Kükentöten verbieten. Doch alle, die wissen, wie langsam europäische Mühlen mahlen, wissen auch: Das wird Jahre dauern. Und ist ein peinlicher Versuch, Verantwortung abzuschieben.

Denn das eigentliche Problem, das wir in Deutschland super lösen könnten, ist das auf absurde Hochleistung getrimmte Agrarsystem. Legehennen „produzieren“ rund 300 Eier jedes Jahr – während Hühner ursprünglich ungefähr 25 Eier gelegt haben. Dieser Wahnsinn hat Folgen: Unglaubliche 97 Prozent aller Legehennen haben gebrochene Brustbeine, wie eine aktuelle Studie der Uni Bern zeigt. Den Tieren brechen einfach die Knochen, weil die vielen Eier ihnen alles Kalzium entziehen.

Das Verbot des Kükentötens doktert nur an Symptomen eines kaputten Tierhaltungssystems herum. Es soll weiter möglichst billig und möglichst viel produziert werden. An dem Grundproblem ändert es nichts: dass Hühner in der modernen Agrarindustrie entweder darauf gezüchtet sind, extrem viele Eier zu legen oder extrem viel Fleisch anzusetzen.

Wir müssen stattdessen zurück zu sogenannten „Zweinutzungshühnern“, die sowohl Eier legen als auch genug Fleisch für die Mast ansetzen. Und es braucht nicht weniger als einen wirklichen Systemumbau in der Tierhaltung: Wir müssen deutlich weniger Hühner halten, aus robusteren Rassen und in besseren Haltungsbedingungen, die die Tiere nicht krank und kaputt machen.

Das ist vielleicht ein bisschen anstrengender als ein einfaches Kükentöten-Verbot, und eignet sich nicht für schnelle PR. Aber nur so können wir den erbärmlichen Umgang mit unseren Hähnen und Hühnern endlich beenden.

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Autor*innen

Dr. Chris Methmann ist Geschäftsführer von foodwatch Deutschland. Vorher hat er bei Campact Kampagnen geleitet. Als langjähriger Aktivist und Campaigner in der Klimabewegung streitet er für ein Ernährungssystem, das die Grenzen unseres Planeten endlich respektiert – und setzt sich dafür ein, dass nur ehrliches, gesundes und zukunftsfähiges Essen auf unseren Tellern landet. Alle Beiträge

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