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Ausdauer trainieren

Allyship, das ist mehr als einmal eine schwarze Kachel auf Instagram zu posten. Allyship braucht Ausdauer.

Menschen sitzen zusammen auf einem Segelboot im Sonnenuntergang.
Sich zu verbünden heißt, sich klar zu machen: Wir sind im selben Boot. Foto: Jarrett Fifield / Unsplash

Es ist Juli 2016, ein warmer Tag in Istanbul. Ich habe die Info, dass die Freundin, die wir gleich bei der Arbeit besuchen, ein Blumengeschäft betreibt. Sobald sich die Tür öffnet, wird klar: Es ist viel mehr. Das historische Altbauhaus ist aus gelblichem Stein, das Licht drinnen ist warm und alt. Wir laufen durch eine Kulisse aus getrockneten Blumen, alten Lampenschirmen, Skulpturen, Kerzen, antiken Möbeln, Gemälden und Installationen durch. Wir landen in einem von der Großstadt isolierten, grünen und kühlen Hinterhof, setzen uns an den Tisch.

Meine Schulfreundin habe ich seit mindestens zehn Jahren nicht gesehen. Wir unterhalten uns, gleich kommt ein Freund von ihr hinzu und setzt sich zu uns. Ein junger, gut aussehender Mann, der lässig und dennoch stylish angezogen ist. So wie überall sprechen Menschen auch hier und jetzt über die politische Lage, denn der gescheiterte Putschversuch liegt nur wenige Tage zurück. Der Schock sitzt tief, die Atmosphäre ist angespannt, die nahe Zukunft ist absolut unberechenbar. Viele fühlen sich überhaupt nicht sicher und würden am liebsten das Land verlassen. Auch der junge Mann, der dazukam.

„Was bringt schon der Widerstand?“, fragt er, rhetorisch. „Während der Gezi-Proteste haben wir uns gewehrt. Was hat sich geändert? Nichts.“

Ich verstehe seinen Unmut. Vor allem jetzt in der Retrospektive, weil ich weiß, dass nur wenige Tage nach diesem Gespräch der Ausnahmezustand verhängt wird, und welche Repressionen und Krisen diesem Tag folgen. Was ich allerdings bis heute nicht verstehe, ist seine Erwartung. Nämlich, dass Menschen sich nur einmal wehren müssen, damit sich etwas ändert und sich die politische Lage nachhaltig, für immer verbessert. Es wäre sehr schön, aber das gab es noch nie, wird es nie geben, so funktioniert das nicht.

Jeder Mensch trägt politische Verantwortung

Der Fortschritt ist kein linearer Prozess. Erkämpfte Rechte können wieder genommen werden – jederzeit und überall. Und wer in einer Demokratie leben möchte, muss permanent wachsam und kämpferisch bleiben. Jeder Mensch trägt eine politische Verantwortung, die weit über das Recht, wählen und gewählt zu werden, hinaus geht. Jeder Lebensbereich ist politisch und die politische Überzeugung muss auf jeden Lebensbereich integriert werden. Freiheit muss gelebt werden und sie ist nicht gratis.

Willkommen im Campact-Blog

Schön, dass Du hier bist! Campact ist eine Bürgerbewegung, mit der über 2,5 Millionen Menschen für progressive Politik streiten. Im Campact-Blog schreiben das Team und ausgezeichnete und versierte Gast-Autor*innen zu den Themen, die ihnen wichtig sind.

So wie es auch Angela Davis immer wieder betont, ist Freiheit ein ständiger Kampf. Und zwar kein individueller, sondern ein kollektiver. Das heißt nicht nur, dass Menschen zu verlieren verdammt sind, solange sie ihren Kampf für die Freiheit alleine führen. Das bedeutet auch, dass so lange auch nur eine einzige Gruppe in einer Gesellschaft nicht frei ist, es keine andere sein kann. Andere bei ihrem Befreiungskampf zu unterstützen ist zeitgleich auch Selbsthilfe, Selbstbefreiung.

Was bedeutet das für Menschen, die vom Kampf müde werden, weil er aussichtslos scheint? Das bedeutet: Ausdauer trainieren. So wie beim Sport oder Lesen, so wie bei allem im Leben, das nicht selbstverständlich ist, sondern schwierig; so wie bei allem, was trainiert, gelernt und sogar gemeistert werden will, müssen wir auch bei unserem Kampf für die Freiheit Ausdauer trainieren.

Allyship braucht Ausdauer

So muss also Allyship verstanden und behandelt werden: Eine Person zu sein, die sich mit anderen verbündet, bedeutet nicht nur einmal für eine Kampagne gespendet zu haben. Einmal das eine Buch gelesen zu haben. Einmal auf eine bestimmte Demonstration gegangen zu sein. Einmal eine schwarze Kachel auf Instagram gepostet zu haben. Einmal eine Petition unterschrieben zu haben. Sich zu verbünden ist eine permanente Aufgabe, bei der Ausdauer unverzichtbar ist. Man kann sich natürlich auch punktuell verbünden, dann ist es aber eben keine Lebenseinstellung, sondern eine einmalige Aktivität. So wie, wenn man einmal im Leben Bungee springt. Oder wenn man einmal im Leben nach Bangkok reist. Sich zu verbünden ist ein Lebensstil, für den sich Menschen aus Überzeugung entscheiden und dementsprechend entschieden, also konsequent, führen sollten. Weil es für sie klar sein muss: Wir sind im selben Boot. Das sind wir. Auch wenn wir in unterschiedlichen Abteilungen schlafen.

Wer sich an seinen Privilegien festhält und sich von dem sinkenden Boot früher herausholt, während andere ertrinken, mag für den Moment vielleicht noch überleben. Die Gründe, warum das Boot überhaupt zum Sinken gekommen ist, werden allerdings unberührt bleiben, und damit auch die Gefahr.

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Autor*innen

Sibel Schick kam 1985 in Antalya, der Türkei, auf die Welt und lebt seit 2009 in Deutschland. Sie ist Kolumnistin, Autorin und Journalistin. Schick gibt den monatlichen Newsletter "Saure Zeiten" heraus, in dem sie auch Autor*innen, deren Perspektiven in der traditionellen Medienlandschaft zu kurz kommen, einen Kolumnenplatz bietet. Ihr neues Buch „Weißen Feminismus canceln. Warum unser Feminismus feministischer werden muss“ erscheint am 27. September 2023 bei S. Fischer. Ihr Leseheft "Deutschland schaff’ ich ab. Ein Kartoffelgericht" erschien 2019 bei Sukultur und ihr Buch "Hallo, hört mich jemand?" veröffentlichte sie 2020 bei Edition Assemblage. Im Campact-Blog beschäftigte sie sich ein Jahr lang mit dem Thema Rassismus und Allyship, seit August 2023 schreibt sie eine Kolumne, die intersektional feministisch ist. Alle Beiträge

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