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Bürgerräte: Endlich gut beraten

Seit Kurzem gibt es Bürgerräte in Deutschland. Ein Schritt zu mehr Mitbestimmung in unserer Demokratie. Doch was kann das neue Instrument?

Bürgerräte verstehen sich auch als Ideen-Sammler.
Bürgerräte verstehen sich auch als Ideen-Sammler. Foto: IMAGO / Steinach

Habt Ihr es zufällig bemerkt? Unsere Demokratie hat sich vor zwei Wochen geändert. Am Abend des 21. Juli war es die erste Meldung der Tagesschau: Es gibt jetzt einen Bürgerrat in Deutschland. Für die Demokratie ein historischer Evolutionsschritt. Ich erkläre Euch kurz die Basics, falls Ihr es verpasst habt; was das neue Bürger*innen-Gremium kann und was es nicht vermag. 

Ein Bürgerrat besteht hierzulande aus 160 Bürgerinnen und Bürgern und soll für ein gesellschaftspolitisch relevantes Thema Lösungsvorschläge erarbeiten. Hat er seine Ergebnisse vorgelegt, so löst sich der Bürgerrat wieder auf. Ein neuer Bürgerrat, mit neuen Bürger*innen, wird eingesetzt, wenn die Politik wieder Hilfe bei einem Thema benötigt. Der springende Punkt: Wer von uns im Bürgerrat sitzt, entscheidet der Zufall. Besser gesagt: das Los. 

Schon in der Wiege der Demokratie im alten Athen, in der Renaissance (in Republiken wie Venedig oder Florenz) und bis zur Französischen Revolution wurde über den Zufall die Besetzung von Gremien und Ämtern bestimmt. 

Der Zufall entscheidet

Denn der Zufall birgt den wichtigsten demokratischen Wert in sich: Gleichheit. Vor dem zufällig gezogene Los ist jede und jeder von uns wahrlich gleich. Geldlotterien beruhen im Prinzip auf demselben Mechanismus. Wir wollen alle reich werden, wer dann tatsächlich reich wird, entscheidet nicht die Stärke, Intelligenz oder soziale Netzwerke, sondern das Versprechen des Loses: der gerechte Zufall. Wer also den Bundestag bei wichtigen Zukunftsfragen mitberaten darf, entscheidet nun ab sofort ebenfalls jener egalitäre Mechanismus, den wir Zufall nennen. 

Natürlich ist das Auswahlverfahren nicht ganz so simpel, wie es noch in Athen, Venedig oder Florenz war. Heutzutage gehen wir noch einen Schritt weiter: Die am Bürgerrat Teilnehmenden sollen nämlich nach Kriterien wie Wohnort, Alter, Geschlecht und Bildungsgrad so verteilt sein, dass sie die Bevölkerung annähernd abbilden. Deswegen hat man das Verfahren einer gewichteten Zufallsauswahl entwickelt. Am Schluss kommt ein 160 Teilnehmer*innen starkes Bürger*innen-Gremium dabei heraus, das sozusagen ein „Mini-Deutschland“ darstellt. Dem Zufall wird also ein gewisser Rahmen gesetzt: Damit das Ergebnis tatsächlich das ganze Land repräsentieren kann, wird im wörtlichen Sinne nicht alles dem Zufall überlassen. 

Was an dieser Stelle wichtig zu verstehen ist: Bürgerräte werden in Zukunft keine gewählten Parlamente ersetzen. Auch sind die Ergebnisse eines Bürgerrats als Empfehlungen an die Politik zu verstehen und nicht als fertige Gesetzesvorlagen, die von der Regierung umgesetzt werden müssen. Vielmehr sind Bürgerräte unabhängige Beratungsgremien, die der Politik bei schweren, vielleicht sogar auf den ersten Blick unlösbaren Zwickmühlen weiterhelfen können. Sie dienen der Deliberation, nicht der Gesetzgebung! 

Der irische Weg

Warum es in Deutschland zukünftig Bürgerräte gibt, hat wenigstens mittelbar mit den guten Erfahrungen der Bürgerräte (Citizen Assemblies) in Irland zu tun. In dem sehr katholisch geprägten Land kam man als Gesellschaft unter anderem bei den Themen Abtreibung und gleichgeschlechtige Ehe nicht weiter. Gesellschaftliche Spannungen wurden immer größer – keine Lösung war in Sicht. 

Da ließ sich die irische Regierung auf ein Demokratie-Experiment ein und berief zunächst einen Verfassungskonvent und später einen Bürgerrat ein. Während der Verfassungskonvent noch zu zwei Dritteln aus gelosten Bürger*innen und zu einem Drittel aus Abgeordneten bestand, saßen im Bürgerrat nur noch per Zufall ermittelte Teilnehmer. Beide Verfahren wurden von immensem öffentlichen Interesse begleitet. Und beide Male überraschten die Ergebnisse der Verfahren das irische Parlament: Sie waren durchdacht und von überraschender gesellschaftlicher Toleranz und Respekt geprägt. Jedes Mal wurde nach dem Bürgerrat ein Referendum über die Ergebnisse abgehalten, bei denen die Empfehlungen aus Verfassungskonvent und Bürgerrat mit großer Mehrheit angenommen wurden. So führte Irland am Schluss doch noch unter Mithilfe geloster Bürger*innen die Ehe für alle ein und auch das Abtreibungsrecht wurde gesetzlich verankert.

Bürgerräte helfen, wenn es verhärtet ist

Wenn Ihr noch viel mehr über die Zukunftsgremien wissen wollt, dann schaut einfach auf www.buergerrat.de

Auch wenn es in Deutschland auf Bundesebene noch keine Möglichkeit eines Volksentscheids gibt, der irische Weg in Deutschland also bis auf Weiteres versperrt bleibt, ist es ein erster wichtiger Schritt, Erfahrungen mit Bürgerräten bei gesellschaftlich verhärteten Themen zu machen. Ihre Ergebnisse werden, wie in Irland auch, gangbare politische Wege abseits der absehbaren Parteilinien aufzeigen und Themen aus dem Strudel des Kulturkampfes herausholen. Am Schluss liegt es dann an der Regierung, wie weit sie dem guten Rat der Bürger*innen auch folgen wird. Das Thema des ersten Bürgerrats in Deutschland ist übrigens Ernährung. Ein gutes erstes Thema! 

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Autor*innen

Anselm Renn ist Kommunikations- und Politikwissenschaftler. Er ist Bundesvorstand von Mehr Demokratie e.V. und setzt sich seit Jahren als Pressesprecher und Campaigner für stärkeren Bürger:inneneinfluss in der Politik auf allen Ebenen ein. Im Campact-Blog schreibt er zu den Themen Direkte Demokratie und Volksentscheide. Alle Beiträge

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