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Vergessenes Verbrechen: Der Völkermord an den Herero und Nama

August 1904, „Deutsch-Südwestafrika”: Truppen des deutschen Reiches beginnen einen Völkermord, Zehntausende Herero und Nama sterben auf grausame Weise. Ein Stück deutsche Kolonialgeschichte, über das schon viel zu lange geschwiegen wird.

Ein Denkmal in Windhoek in Namibia, das an den deutschen Genozid der Nama und Herero erinnert. Zu sehen sind zwei Personen mit nach oben gestreckten Fäusten und zersprengten Ketten an den Händen.
Das 2014 eingeweihte Denkmal in Windhoek, Namibia erinnert an den Genozid der deutschen Kolonialherren an Herero und Nama. Foto: IMAGO/ imageBROKER G.xThielmann

Meinen Sommerurlaub habe ich in Frankreich verbracht. Wir saßen am Küchentisch bei gutem Wein und noch besserem Käse mit zwei älteren Damen, Freundinnen der Familie von meinem Partner, als das Gespräch auf die deutsche Geschichte kam. Die beiden Französinnen erzählten fröhlich von ihrem Berlin-Besuch: wie beeindruckt sie waren, davon, wie schlecht die Deutschen essen – und wie gut sie ihre Geschichte aufarbeiten. So selbstkritisch. Ich will schon zustimmen, will sagen, was ich in solchen Gesprächen schon oft gesagt habe: dass Deutsche kritisch mit ihrer eigenen Geschichte umgehen, dass wir geschehene Schuld und Verbrechen anerkennen können. Aber dann fällt mir auf: Das gilt zwar für den Zweiten Weltkrieg und die Shoa –  aber nicht für deutsche Kolonialverbrechen.

Im August 1904 begann ein Völkermord in der damaligen Kolonie „Deutsch-Südwestafrika“, dem heutigen Namibia. In der Schule habe ich nie etwas von diesem Teil der deutschen Geschichte gehört und auch in den Medien steht dazu wenig – rund um den Jahrestag des Verbrechens. Truppen des deutschen Reichs haben in den Jahren 1904 bis 1908 Zehntausende Herero und Nama, das sind die dort lebenden indigenen Bevölkerungsgruppen, systematisch verdursten lassen, in Konzentrationslagern interniert und durch Zwangsarbeit getötet. Es war der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts. Eine erste Entschuldigung der deutschen Regierung dafür gab es aber erst volle 100 Jahre später. Eine offizielle Anerkennung der Schuld: 2021. Reparationszahlungen bis heute: keine.

„Vernichtungsbefehl“ von General Trotha

Was ist geschehen? Von 1884 bis 1915 war das Deutsche Reich Kolonialmacht im heutigen Namibia. Die lokale Bevölkerung setzte sich gegen die Unterdrückung, Fremdherrschaft und Menschenrechtsverletzungen zur Wehr. Die Nama kämpften vor allem im Süden; im Zentrum des Landes erhoben sich im Januar 1904 die Herero unter der Führung von Samuel Maharero zu einem Aufstand. Daraufhin wurde der berüchtigte deutsche Generalleutnant Lothar von Trotha mit einer 15.000 Mann starken Armee in die Kolonie geschickt, um den Aufstand niederzuschlagen. Das gelang ihm in der Schlacht von Ohamakari (Schlacht am Waterberg) am 11. und 12. August 1904. Doch anders als von Trotha geplant, gelang es nicht, die Herero einzukesseln; die Überlebenden konnten mit Frauen und Kindern in die Wüste fliehen.

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General Trotha erließ daraufhin den „Vernichtungsbefehl“: Die Wasserstellen in der Omaheke-Wüste, in die sich die Herero geflüchtet hatten, wurden abgeriegelt. Die deutschen Truppen sollten alle Herero töten, auch die Unbewaffneten. „Ich nehme keine Weiber und Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volk zurück oder lasse auf sie schießen”, schrieb Trotha. Herero-Häuptlinge, die mit den Deutschen verhandeln wollten, wurden bei diesen Verhandlungen erschossen. Mit Waffengewalt trieben die Deutschen die Herero immer weiter in die Wüste hinein. Im Bericht des deutschen Generalstabs hieß es später: „Die wasserlose Omaheke sollte vollenden, was die deutschen Waffen begonnen hatten: Die Vernichtung des Hererovolkes.“

Der ganze deutsche Generalstab und Kaiser Wilhelm II. wussten von diesem Völkermord und gaben General Trotha Rückendeckung dafür. Als Berichte von den deutschen Gräueltaten das Kaiserreich erreichten, sorgten sie aber doch für immerhin so viel Empörung, dass sie eine politische Krise und Neuwahlen im Jahr 1907 auslösten.

Völkermord auch an den Nama

Nach der grausamen Niederschlagung der Herero verstärkten auch die Nama unter Führung von Hendrik Witbooi ihren Kampf gegen die Kolonialmacht. Im April 1905 schickte General Trotha auch den Nama eine öffentliche Todesdrohung: 

„ … und sage ferner, daß es den wenigen, welche sich nicht unterwerfen, ebenso ergehen wird, wie es dem Volk der Hereros ergangen ist, das in seiner Verblendung auch geglaubt hat, es könne mit dem mächtigen deutschen Kaiser und dem großen deutschen Volk erfolgreich Krieg haben. Ich frage Euch, wo ist heute das Volk der Hereros?“

Zwei Jahre später hatten die deutschen Kolonialtruppen auch die Nama gewaltvoll niedergeschlagen. 

Konzentrationslager auf der „Todesinsel“

Wie zuvor schon Tausende Herero wurden nun auch fast alle überlebenden Nama sukzessive gefangen genommen und in Konzentrationslagern interniert auf einer Halbinsel, die als „Todesinsel“ bekannt wurde. Ohne ausreichend Wasser und Essen, ohne Schutz vor Sonne und Wind wurden die Menschen hier festgehalten. Sie mussten schwere Arbeit leisten, etwa zum Bau einer Eisenbahnstrecke. 80 Prozent der hier inhaftierten Männer, Frauen und Kinder starben vermutlich innerhalb von sechs Monaten nach ihrer Ankunft. Insgesamt kostete der Völkermord zwischen 1904 und 1908 bis zu 100.000 Menschen das Leben. 80 Prozent des Hererovolkes wurden ausgelöscht. Viele Details über die Konzentrationslager sind bis heute nicht genau bekannt, denn die namibische Regierung fokussiert sich in ihrem Gedenken auf den Unabhängigkeitskampf, nicht auf das Leid der Herero und Nama. Auf der „Todesinsel“ steht inzwischen ein Gedenkstein für die Ermordeten – allerdings erst seit diesem Jahr

In Namibia wird der Opfer des Völkermords jedes Jahr am 26. August am „Herero Day“ (auch: Red Flag Day) gedacht. In Deutschland dagegen gab es 100 Jahre lang nur ohrenbetäubendes Schweigen. 2004 bat schließlich SPD-Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul bei ihrer Teilnahme am „Herero Day“ zum 100. Jahrestag des Völkermords die Herero und Nama um Vergebung. Das war aber eine Abweichung vom Redemanuskript; die Bundesregierung distanzierte sich anschließend davon.

Versöhnung, aber keine Wiedergutmachung

Ab 2015 gab es endlich Verhandlungen über ein „Versöhnungsabkommen” zwischen der Regierung von Namibia und der deutschen Bundesregierung. Doch die Nachkommen der Herero und Nama waren daran nicht beteiligt. Sie fordern neben einer offiziellen Entschuldigung auch Wiedergutmachung von der Bundesrepublik, und zwar finanzieller Art. Die Regierung von Namibia behauptet, sie vertrete auch die Interessen der Herero und Nama. Sie hat sich 2021 nach sechs Jahren Verhandlungen auf eine „Gemeinsame Erklärung“ mit der Bundesregierung geeinigt. In dem Abkommen erkennt Deutschland den Genozid an und bittet offiziell um Entschuldigung.

Kritik von den Vereinten Nationen

Die Vereinbarung sieht vor, dass Deutschland in den kommenden 30 Jahren 1,1 Milliarden Euro für Entwicklungs- und Versöhnungsprojekte zahlt – allerdings nicht als offizielle Reparationen und nicht direkt an die Herero und Nama. Die Nachfahren der Ermordeten haben das Abkommen deshalb bis heute nicht unterzeichnet. Es sei nichts weiter als ein PR-Coup Deutschlands, hieß es in einer Erklärung der Ovaherero Traditional Authority und Nama Traditional Leaders Association. Ende 2022 begannen Nachverhandlungen zu dem Abkommen, aber direkte Reparationszahlungen an die Herero und Nama verweigert die Bundesregierung bis heute.  

Lara Eckstein schreibt im Wechsel mit Victoria Gulde im Campact-Blog zum Thema Erinnern.

Eine Gruppe Sonderberichterstatter:innen der Vereinten Nationen hat Anfang des Jahres einen Brief an die Bundesregierung geschrieben, der die Forderungen der Herero und Nama unterstützt. Diese müssten direkt an den Verhandlungen beteiligt werden und Reparationen bekommen. Die „Gemeinsame Erklärung“ enthalte keine wirksamen Wiedergutmachungsmaßnahmen und stelle nicht die notwendigen Mittel zur Versöhnung bereit.

„Ignoriert, weil wir schwarz sind“

Robert Habeck war im vergangenen Jahr in Namibia – allerdings für einen Wirtschaftsdeal: Ganz in der Nähe der ehemaligen „Todesinsel“ soll in Zukunft grüner Wasserstoff produziert werden; der starke Wind vom Meer bringt viel Energie. Im Zuge der „Gemeinsamen Erklärung“ zum Genozid war eigentlich auch geplant, dass Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nach Namibia reisen und sich offiziell für den Völkermord an Herero und Nama entschuldigen sollte. Eine Sprecherin sagte laut Spiegel, das sei für dieses Jahr nicht geplant. Das Motto der Bundesregierung scheint zu lauten: Wirtschaftliche Beziehungen? Ja gerne! Geschichtliche Aufarbeitung? Lieber nicht. Ich frage mich: Warum?

Ist die Angst vor Reparationszahlungen der Grund, warum Deutschland den Völkermord an den Herero und Nama bis heute versucht unter den Teppich zu kehren? Will die Bundesregierung verhindern, dass ein Präzedenzfall geschaffen wird? Schließlich war das Deutsche Reich auch in anderen Gebieten Kolonialmacht, etwa in Kamerun, Togo, Tansania, im chinesischen Tsingtao und auf Pazifikinseln – und auch da gab es fürchterliche Verbrechen an der lokalen Bevölkerung. Oder ist es, wie Esther Utjiua Muinjangue, Professorin an der Universität Windhoek und Vorsitzende der „Ovaherero Genocide Foundation“ anklagend sagt: „Unser Völkermord wird ignoriert, weil wir schwarz sind”? Deutschland hat also fast 120 Jahre nach dem Genozid immer noch das gleiche Problem: Rassimus.



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Autor*innen

Lara Eckstein hat im Journalismus-Studium Interviews mit Überlebenden des Holocausts geführt und ist seitdem glühende Antifaschistin. Bei Campact arbeitet sie als Campaignerin gegen Rechtsextremismus; privat ist sie als stadtpolitische Aktivistin in Berlin im Einsatz. Hier bloggt sie zu Erinnerungspolitik und gegen das Vergessen. Alle Beiträge

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