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Solidarität, aber mit einer Bedingung

Das türkische Volleyball-Team gewinnt die Europameisterschaft – und alles diskutiert über die sexuelle Identität der Spielerin Ebrar Karakurt. Neben Hass erfährt sie auch Solidarität. Doch die ist viel zu oft an Bedingungen geknüpft.

Die Volleyballerin Ebrar Karakurt. Mit der türkischen Nationalmannschaft ist sie kürzlich Europameisterin geworden.
Ebrar Karakurt bei der Volleyball-Europameisterschaft 2023. Foto: IMAGO / Beautiful Sports

Der Bildschirm meines Smartphones leuchtet, ich schaue hin. Eilmeldung einer türkischen Nachrichtenplattform, es geht um Frauen-Volleyball. In einem spannenden Showdown vergangenen Sonntag sicherte sich die türkische Frauen-Volleyballmannschaft zum ersten Mal in ihrer Geschichte die Europameisterschaft und triumphierte im letzten Spiel in Brüssel mit einem Sieg über Serbien. Dieser Triumph ist ein Beweis dafür, dass Erfolg im Frauensport möglich ist – vorausgesetzt, es werden genug Ressourcen zur Verfügung gestellt. Der Sport in der Türkei, vor allen Dingen Frauensport, ist in vielen Bereichen chronisch unterfinanziert und vernachlässigt. Es gäbe also wichtige Themen, über die jetzt, mit dem Sieg als Anlass, diskutiert werden könnte. Vergeblich. Stattdessen diskutiert die Türkei über die sexuelle Identität der Nationalspielerin Ebrar Karakurt.

Hass-Kampagne gegen Ebrar Karakurt

Sibel Schick schrieb ein Jahr lang an dieser Stelle eine Kolumne über Rassismus und Allyship. Ab sofort erscheint hier einmal im Monat eine Kolumne, die intersektional feministisch ist.

Volleyballnationalspielerin Ebrar Karakurt teilte am 15. August, circa zwei Wochen vor dem Sieg in Brüssel, ein Foto mit ihrer Freundin auf Instagram und outete sich damit als lesbisch. Das Foto erhielt sowohl homofeindliche Kommentare als auch Unterstützung, generierte mehr als 160.000 Likes in etwa 16 Stunden. Als Karakurt das Foto später löschte, trendete ihr Name bereits auf Twitter. Im Vorfeld des Endspiels und auch danach starteten konservative, homofeindliche, misogyne und regierungsnahe Medien, Trolle und andere auf Social Media eine Hass-Kampagne und forderten den Ausschluss Karakurts aus der Nationalmannschaft. Selbst unter dem Tweet des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, in dem er der Nationalmannschaft für den Sieg gratulierte, gab es kritische Stimmen. Diese behaupteten, dass die Beteiligung einer lesbischen Sportlerin den Sieg nichtig machen würde, dass sie sogar Jugendliche gefährden und Familien auseinander reißen würde.

Lesbische Sportlerinnen reißen keine Familien auseinander

Nur, um es mal klarzustellen: Lesbische Sportlerinnen reißen keine Familien auseinander. Es sind homofeindliche Eltern, die ihre Kinder nicht unterstützen, weil sie sie nicht bedingungslos lieben. Aber erzähl ihnen das mal …

Die Türkei ist ein zutiefst gespaltenes Land. Die Reaktion der „anderen“ Lager ließ daher nicht lange auf sich warten, sie nahmen Karakurt gleich in Schutz. Sie sei der Stolz der Nation, hieß es, und der Hashtag #StolzderNation trendete auf Twitter. Visuals mit der türkischen Fahne und Sprüchen wie „Töchter von Atatürk“ füllten die Timelines, manche twitterten Texte von nationalen Märschen mit Fotos der Nationalspielerin. Ein Instagram-Account namens faynstudio, der in der Regel gute Inhalte zur Verfügung stellt, erklärte den Sachverhalt mit einem Clip und bezeichnete darin die Spielerin als Patriotin. Als dürfte ein Mensch nicht lesbisch sein, ohne dabei auch als patriotisch zu gelten.

Schweigen ist nicht neutral

Wenn eine lesbische Sportlerin aufgrund ihrer sexuellen Orientierung angegriffen wird, weil manche Gruppen so sehr Angst davor haben, von dem patriarchalen Heterosexismus befreit zu werden und eventuell herausfinden zu müssen, wer sie außerhalb des engen Korsetts patriarchaler Normen sind, ist es eine feministische Verantwortung, sie zu verteidigen und die Angriffe zu stigmatisieren. Wenn eine marginalisierte Person vor unseren Augen angegriffen wird und wir uns nicht einmischen, dann teilen wir den Täter*innen mit, dass wir es in Ordnung finden. Schweigen ist nicht neutral. Wichtiger, und sogar am wichtigsten dabei ist allerdings, nicht von einer patriarchalen Norm zur nächsten zu rennen.

Kampf gegen das Patriarchat heißt Hierarchien abschaffen

Der Versuch, sich gegen Homofeindlichkeit und Misogynie mit Nationalismus zu wehren, ist Unsinn. Weil Nationalismus ausnahmslos immer Hierarchien voraussetzt und der Kampf gegen das Patriarchat Hierarchien abschaffen muss. Es muss daher absolut irrelevant sein, ob die lesbische Frau, die wir gegen Angriffe verteidigen wollen, eine Patriotin oder der Stolz der Nation sein soll. Sie muss keinen Nutzen haben, symbolisch oder tatsächlich, um würdevoll leben zu dürfen – das steht ihr bedingungslos zu. Als Mensch ist das ihr Geburtsrecht.

Solidarität muss bedingungslos sein

Die Sache mit der vermeintlichen Solidarität ist: Solange sie von Bedingungen wie „patriotisch sein“ oder „die Nation stolz machen“ abhängt, ist es eben keine Solidarität. Wenn nämlich die Solidarität an Bedingungen geknüpft ist, steht immer die Drohung im Raum, dass sie entzogen wird, wenn diese Bedingungen nicht mehr erfüllt werden. Klar müssen wir nicht einseitig, sondern gegenseitig solidarisch sein. Bedingungen ändern sich aber je nach Zeit und Raum. Aus einem „Du musst patriotisch sein, um verteidigt zu werden“ kann sehr schnell ein „Du musst hetero sein, um verteidigt zu werden“ werden.

Was macht eine Volleyball-Spielerin zu einer Patriotin? Und warum ist es so schwierig zu begreifen, dass Patriotismus unmittelbar zur Diskriminierung und Gewalt derer, die als „die Anderen“ gebrandmarkt werden, führt? Und warum ist eine Volleyball-Spielerin überhaupt der Stolz der Nation? Die Unterstützung, die Karakurt aktuell von Teilen der türkischen Gesellschaft bekommt, würde sehr schnell verschwinden, sollte sie weit linke Meinungen über beispielsweise die Kurd*innenfrage äußern, oder geflüchteten Menschen fundamentale Rechte einräumen. Insofern ist es selbst für Karakurt nicht sinnvoll, diese Welle zu reiten: Der Wind dreht sich manchmal so schnell, dass man es nicht kommen sieht. Ein Mensch sollte sich niemals erpressbar machen, egal für welche Sache der Welt – und auch Massen dürfen jene, die Solidarität nötig haben, nicht mit Bedingungen erpressen. Es schadet uns allen.

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Autor*innen

Sibel Schick kam 1985 in Antalya, der Türkei, auf die Welt und lebt seit 2009 in Deutschland. Sie ist Kolumnistin, Autorin und Journalistin. Schick gibt den monatlichen Newsletter "Saure Zeiten" heraus, in dem sie auch Autor*innen, deren Perspektiven in der traditionellen Medienlandschaft zu kurz kommen, einen Kolumnenplatz bietet. Ihr neues Buch „Weißen Feminismus canceln. Warum unser Feminismus feministischer werden muss“ erscheint am 27. September 2023 bei S. Fischer. Ihr Leseheft "Deutschland schaff’ ich ab. Ein Kartoffelgericht" erschien 2019 bei Sukultur und ihr Buch "Hallo, hört mich jemand?" veröffentlichte sie 2020 bei Edition Assemblage. Im Campact-Blog beschäftigte sie sich ein Jahr lang mit dem Thema Rassismus und Allyship, seit August 2023 schreibt sie eine Kolumne, die intersektional feministisch ist. Alle Beiträge

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