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Wir sind die 80 Prozent!

Zu wenig bezahlbare Wohnungen, explodierende Mieten: In Berlin haben 2021 über eine Million Menschen bei einem Volksentscheid für die Vergesellschaftung der großen Wohnungsunternehmen gestimmt. Doch die Berliner Regierung verschleppt die Umsetzung.

Demo von Deutsche Wohnen und Co enteignen – die Forderung des Volksentscheids 2021 muss endlich umgesetzt werden.
Protest von „Deutsche Wohnen und Co enteignen“. Foto: IMAGO / IPON

Berlin ist die Hauptstadt der Mieter*innen. 80 Prozent wohnen in der Hauptstadt zur Miete. Ich auch. Berlin ist auch die heimliche Hauptstadt der direkten Demokratie. Nirgendwo gab es in den letzten Jahren mehr von Bürger*innen initiierte Volksinitiativen und Volksentscheide. Und nirgendwo sonst ist die direkte Demokratie in der Öffentlichkeit so präsent wie in Berlin. Es ist also nicht wirklich verwunderlich, dass die 80 Prozent selbst auf die Idee kamen, das Heft in die Hand zu nehmen, als sich die Mieten in Berlin in den letzten zehn Jahren verdoppelt haben und die Politik nichts Erkennbares dagegen unternommen hat.

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So gründete sich die Initiative „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ mit dem Ziel, die größten Immobilienkonzerne in Berlin zu enteignen. Der Plan sieht vor, dass nach der Vergesellschaftung von 240.000 Wohnungen die Mieten fallen, was wiederum enorm stabilisierende Effekte auf den gesamten Immobilienmarkt Berlins haben und die Preisspirale stoppen soll.

Wohnen ist ein Grundrecht

Ein guter Plan, vor allem, weil er deutlich macht: Wohnen ist ein Grundrecht und darf nicht zu einem bloßen Spekulationsobjekt verkommen. In den Wohnungen leben Menschen. Und doppelt so viel Miete ist definitiv zu viel!

Das Ergebnis: Die Initiative hat es wirklich geschafft. Über eine Million Menschen haben beim Volksentscheid im September 2021 für die Vergesellschaftung der großen Wohnungsunternehmen in Berlin gestimmt. Damit haben mehr Menschen für den Enteignungsvolksentscheid gestimmt als für die letzten beiden Regierungskoalitionen. Das Volk hat gesprochen. Die Berliner Regierung wurde also via Volksentscheid beauftragt, ein Gesetz zu verabschieden, um die Wohnungskonzerne zu enteignen. Also alles gut, oder … etwa doch nicht?

Direkte Demokratie in Berlin

Werfen wir an dieser Stelle einen kurzen Blick in die Berliner Verfassung. Hier steht zur direkten Demokratie, also zu den von den Bürger*innen unmittelbar ausgelösten Abstimmungen, im Artikel 3 Absatz 1:

Die gesetzgebende Gewalt wird durch Volksabstimmungen, Volksentscheide und durch die Volksvertretung ausgeübt; die vollziehende Gewalt durch die Regierung und die Verwaltung sowie in den Bezirken im Wege von Bürgerentscheiden.

Berliner Verfassung, Artikel 3, Absatz 1

Was ich mit diesem Zitat verdeutlichen will: In Berlin hat die direkte Demokratie Verfassungsrang. Sie ist bindend und genauso ernst zu nehmen wie Wahlen!

Vielleicht war die neue rot-rot-grüne Regierung im Jahr 2021 etwas überfordert von dem klaren Ergebnis des Volksentscheids. Auch wenn die Forderungen nach einer Lösung der Mietenexplosion in Berlin mehr Stimmen erhielten als die eigene Regierungskoalition, wurde die Umsetzung des Gesetzes nicht zur Priorität erklärt. Man spielte auf Zeit, wusste nicht so recht, was nun zu tun ist, und zweifelte schließlich die Verfassungskonformität der Forderung an. Ist eine Enteignung so, wie von der Initiative gefordert, überhaupt mit dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland vereinbar? (Spoiler: Ja, es ist möglich, wie im Grundgesetz Artikel 15 geregelt.)

Berlin verzögert Umsetzung des Volksentscheids

Schlussendlich wurde Monate später, im März 2022, eine Expert*innenkommission eingesetzt, die unter der Leitung der ehemaligen Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin der Frage nachgehen sollte, ob eine Enteignung von Wohnungskonzernen in Berlin verfassungskonform ist. Das Ergebnis ließ lange auf sich warten und kostete vor allem viel Geld (über 800.000 Euro). Nach über einem Jahr präsentierte das Gremium im Juni 2023 der neu gewählten schwarz-roten Regierung das deutliche Ergebnis: Eine Enteignung von Wohnungskonzernen in Berlin ist rechtlich machbar. Ein Schock für die CDU und auch für die SPD, die auf ein anderes Ergebnis gehofft hatten.

Jetzt konnte also eigentlich losgelegt werden! Die Umsetzungspflicht des Volksentscheids wurde langsam mehr als erdrückend. Doch die Regierung unter dem neu gewählten CDU-Oberbürgermeister Wegner fasste einen neuen Plan: Man müsse erst ein Rahmengesetz für Enteignungen im Allgemeinen schaffen. In einem nächsten Schritt soll dann das eigentliche Umsetzungsgesetz formuliert werden. Aber das liegt beides noch in weiter Ferne. Und – wer hätte es gedacht – das Rahmengesetz muss erst einmal auf seine Verfassungskonformität geprüft werden, diesmal durch ein externes Rechtsgutachten. Aha.

Nicht einmal Expert*innen kommen da noch mit, und die Demokratie verlässt wütend das Zimmer und schmettert die Tür zu! Es entsteht der Eindruck, dass die Sache so lange geprüft wird, bis irgendwann das politisch richtige Ergebnis herauskommt.

Nichtachtung der Demokratie

Es wird auf Zeit gespielt, und uns 80 Prozent wird das als Gründlichkeit untergejubelt. In Wahrheit ist es jedoch die Nichtachtung der Verfassung, die Nichtachtung der Demokratie.

Die Initiative  „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ will nicht länger auf den Senat warten. Der Versuch, mit einem Volksentscheid den Senat dazu bewegen, ein Enteignungsgesetz zu schreiben, ist für sie wohl jetzt (schon) gescheitert. Die Initiative hat nun vor, selbst ein Enteignungsgesetz zu schreiben und eine neue Volksinitiative zu starten. Wenn es erneut zu einem erfolgreichen Volksentscheid käme, würde der Entwurf dann sofort zum Gesetz werden – ohne weitere Umwege. Ein guter Plan!

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Autor*innen

Anselm Renn ist Kommunikations- und Politikwissenschaftler. Er ist Bundesvorstand von Mehr Demokratie e.V. und setzt sich seit Jahren als Pressesprecher und Campaigner für stärkeren Bürger:inneneinfluss in der Politik auf allen Ebenen ein. Im Campact-Blog schreibt er zu den Themen Direkte Demokratie und Volksentscheide. Alle Beiträge

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