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Wenn der Nachbar im Dorf AFD-Wähler ist

Am 9. Juni hat die AfD in vielen ostdeutschen Landkreisen die Mehrheit der Stimmen bekommen. Die große Mehrheit der Menschen wählt nicht blau und muss damit umgehen, dass jede:r Dritte im Ort die rechtsextreme Partei wählt. Einzige Lösung: weiter im Gespräch bleiben, klarer widersprechen, gegenseitig zuhören und Perspektiven teilen.

Bauernprotest in Cottbus. Deutschlandfahnen sind an einem Traktor angebracht. Bauern aus Brandenburg und der Region haben sich mit Traktoren vor dem neuen Bahnwerk in Cottbus fuer eine Protestaktion aufgestellt.
Auch in Ostdeutschland fanden Anfang des Jahres Bauernproteste statt – wie hier in Cottbus. Foto: IMAGO / Andreas Franke

Bei den Wahlen zum EU-Parlament am 9. Juni haben in den ostdeutschen Bundesländern zwischen 27 Prozent (Brandenburg) und 31 Prozent (Sachsen) die AfD gewählt. Bei den gleichzeitig stattfindenden Kommunalwahlen in Sachsen und Brandenburg hat die AfD in fast allen ländlichen Landkreisen die Mehrheit der Stimmen bekommen. Zwei Wochen vorher, in Thüringen, war es etwa die Hälfte der Landkreise.

Das bedeutet, dass die überwiegende Mehrheit der Menschen in den ostdeutschen Bundesländern nicht die AfD gewählt hat. Aber doch wieder einmal mehr als vorher. Und insgesamt so viele, dass es in diesem Text darum gehen soll, wie es sich eigentlich so lebt auf dem Land in Ostdeutschland. Wenn der Osten endgültig als „blau“ gilt. Und wenn von den Nachbar:innen jeder und jede Dritte die AfD wählt.

Erwartungslosigkeit und Frust auf dem ostdeutschen Land

Gerade in den ländlichen Räumen liegen die Zustimmungswerte für die AfD oft bei 30 bis 45 Prozent. Gespräche über Politik sind in meinem Erleben schwieriger geworden, Konfliktlinien verhärteter. So wichtig es mir ist, dass die AfD möglichst wenig Stimmen bekommt, so wichtig ist es meinen AfD-wählenden Nachbar:innen, ihre Stimme einer Partei zu geben, die verspricht, mit der Politik der letzten Jahre zu brechen. Von den demokratischen Parteien erwarten sie nichts, was die Probleme in ihrer Lebensrealität irgendwie verbessert. Aus meinen Erfahrungen auf dem Land und in der Landwirtschaft kann ich dieses Gefühl der Erwartungslosigkeit gegenüber der Politik gut verstehen.

Gleichzeitig tut es mir weh, zu sehen, wie die AfD-Wähler:innen ausblenden, was ihre Wahl für Menschen bedeutet, denen keine kartoffeldeutsche Herkunft zugeschrieben wird. Dass der ostdeutsche ländliche Raum für viele Menschen gefährlich und unsicher wird, wenn die offen menschenfeindlichen Aussagen der AfD an der Wahlurne so viel Unterstützung bekommen. Dass viele Bevölkerungsgruppen sich auf dem ostdeutschen Land nicht als sie selbst zeigen können, ohne angefeindet zu werden.

Wie führt man Gespräche, hält Kontakte in dieser Situation? Wo und wie zieht man rote Linien gegenüber Nachbar:innen, im Sportverein oder beim Chor? Kann man am Gartenzaun über so aufgeladene Themen sprechen? Wie kann man sich (weiterhin) öffnen gegenüber Menschen, deren (Wahl-)Verhalten man als bedrohlich empfindet? Wie kann ich ein Gespräch so führen, dass mein Gegenüber ehrlich von sich erzählt, aber auch mir zuhören kann? Wenn wir doch einen so verschiedenen Blick auf die Welt haben.

Die Betriebe brauchen das Netzwerk

Für Landwirtschaftsbetriebe stellen sich diese Fragen in einem viel größeren Ausmaß. Landwirtschaftshöfe liegen in den allermeisten Fällen abseits der großen Städte. Ihre Position ist im Ort meist etwas herausgehoben. Als Hof kann nur bestehen, wer eingebunden ist ins Netzwerk. Das beginnt schon bei der Frage, wer wessen Flächen bewirtschaftet. Denn nur ein sehr kleiner Teil der Betriebsflächen gehört den Landwirt:innen selbst. 70 bis 80 Prozent sind gepachtet, in der Regel von Menschen im eigenen Dorf, in den Nachbar- oder den Kirchgemeinden.

Die Betriebe sind darauf angewiesen, dass die Nachbar:innen ihnen wohlgesonnen sind. Dass darüber weggesehen wird, wenn es saisonbedingt in den Abendstunden lauter ist oder der Miststreuer die Straße etwas verdreckt. Oft gibt es genau einen Schlachtbetrieb in der Nähe und einen Reparaturbetrieb, der den alten Trecker noch mal fit macht. Wer selbst vermarktet, steht mit Namen, Adresse und Telefonnummer im Internet. Gleichzeitig sind Folientunnel, Stroh- oder Heuballen offen zugänglich und dadurch angreifbar.

In politisch aufgeladenen Zeiten authentisch zu sprechen, Position zu beziehen, aber die Beziehungen aufrechtzuerhalten, ist eine Kunst, in der sich viele Landwirt:innen seit ein paar Jahren notgedrungen üben müssen. In einigen Fällen ist es zu Bedrohungen oder Sachbeschädigung gekommen. Aber den Hof aufgeben ist eben keine Option. Der Beruf, die Identität, oft die Versorgung der Eltern, die Arbeit von Generationen und gerade bei Neu-Gründer:innen ein enormer Berg von Schulden – all das ist verbunden mit dem Hof.

Wie die Wahlergebnisse überbrücken?

Es ist nicht abzusehen, dass sich die politische Stimmung auf dem ostdeutschen Land so schnell ändern wird. Die Wirkung der Wahlergebnisse ist eher die, dass Menschen aus der Stadt, die von den AfD-Parolen bedroht werden, das ostdeutsche Land meiden. Aktuelle Probleme nehmen dadurch zu, zum Beispiel, dass Versorgungslücken in Zukunft noch größer werden. Bereits jetzt ist es fast unmöglich, Haus-, Augen- oder Hautärzt:innen zu finden. In der Gastronomie, im Handwerk, am Bau, in der Landwirtschaft – überall fehlen Fachkräfte. Aber wer zieht freiwillig in eine Gegend, in der Menschen auf dem Weg zum Bus, zur Schule, in der Bäckerei rassistisch oder homophob angegriffen werden? Wenn eine Partei gewählt wird, die offen für Remigration wirbt? Wie kommt unter diesen Bedingungen eine Person aus der migrantischen Community auf die Idee, in Ostdeutschland einen Hof zu gründen?

Egal, wie die Landtagswahlen im September ausgehen: Die Herausforderungen auf dem ostdeutschen Land werden eher zunehmen als verschwinden. Eine Politik, die den ländlichen Raum ernst nimmt und nicht vorrangig an die Stadt denkt, würde helfen, ist aber derzeit nicht in Sicht. Solange bleibt für Höfe und Menschen im ländlichen Raum nur: über politische Lager hinweg im Gespräch bleiben, Brücken bauen, bei menschenfeindlichen Bemerkungen aktiv widersprechen, viel zuhören und die sehr verschiedenen Perspektiven auf die Welt teilen. Hundespaziergänge, Gartenzaun-Talk, Vereins-Stammtische, Kirchenbesuche, Pausen mit den Kolleg:innen, Dorffeste, Kita: die Gelegenheiten sind viele, um einfach immer besser zu werden in Kommunikation.

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Autor*innen

Anne Neuber setzt sich dafür ein, dass Menschen in der Landwirtschaft mit Freude und Zukunftsperspektive ihre Arbeit machen können. Derzeit leider eher Utopie als Realität. Sie hat Kulturwissenschaften studiert, eine landwirtschaftliche Ausbildung gemacht, schneidet hochstämmige Obstbäume und engagiert sich in der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL) für eine zukunftsfähige Agrarpolitik. Sie sieht sich als Brückenbauerin zwischen Stadt und Land, Konvis und Ökos, Linken und Konservativen, Ostdeutschland und Berlin. Denn Spaltung bewirkt, dass immer die gewinnen, die wirklich nicht gewinnen sollten. Alle Beiträge

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