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Rechtsruck ist Rechtsruck

Die Ergebnisse der Europawahl schockieren. Was der Rechtsruck für marginalisierte Minderheiten in Deutschland bedeutet – und wie die Regierung ihn noch verstärkt.

Demonstrierende halten ein Tuch auf dem steht "Keupstraße ist überall". Ihnen gegenüber stehen Polizeibeamte.
Demonstrierende halten im März 2015 während einer Demo ein Tuch auf dem steht "Keupstraße ist überall". Die Europawahl 2024 fand am 20. Jahrestag des Anschlags der NSU in der Keupstraße in Köln statt. Foto: IMAGO / Sebastian Widmann

Der Schock der Europawahlen liegt inzwischen einige Tage zurück. In Deutschland ist die AfD zweitstärkste Kraft geworden – nach der CDU. Die Rechten haben die Europawahl gewonnen; auch in anderen Ländern gab es einen Rechtsruck. Alles keine Überraschung für jene, die im Vorfeld wachsam waren, statt in einen realitätsfernen und gerade deshalb toxischen Optimismus zu verfallen. Trotzdem gruselig und unangenehm.

Wenn marginalisierte Minderheiten in Deutschland bisher keinen Grund hatten, Angst um ihre Sicherheit zu haben, dann spätestens jetzt. Und zwar schwarz auf weiß. „Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor“, sagte Olaf Scholz (SPD) bereits 2022. Die Ergebnisse der Europawahlen sagen den marginalisierten Minderheiten: Es dauert nicht mehr sehr lange. Schon vor der Europawahl wurden in Deutschland im Schnitt neun Menschen pro Tag aus rechten Motiven angegriffen. Diese Zahl dürfte jetzt, mit der Bestätigung der Wahlergebnisse, noch steigen. Viele Menschen überlegen, wohin sie demnächst auswandern könnten. Deutschland ist für viele kein sicheres Land mehr.

Sibel Schick ist ist Kolumnistin, Autorin und Journalistin. Lies hier ihre Beiträge:

Der 9. Juni, ein bedeutungsschweres Datum

Am 9. Juni fanden in Deutschland die Europawahlen statt. Der Tag war gleichzeitig der 19. Todestag von İsmail Yaşar, der in Nürnberg vom NSU ermordet wurde, und der 20. Jahrestag des NSU-Anschlags in der Kölner Keupstraße. Die fünf Schüsse auf den Körper von Yaşar oder die 702 Nägel in der Bombe vor dem Friseursalon, unterscheiden sich nur wenig von den Wahlzetteln mit den Stimmen für die AfD. Sie haben dasselbe Ziel, dasselbe Ergebnis, sie segnen sie ab, sie begünstigen sie. Am Jahrestag von nicht nur einem, sondern zwei NSU-Anschlägen, haben sehr viele Deutsche für eine offen faschistische Partei gestimmt, für Faschismus in Europa. Das ist kein Protest, das ist keine demokratische Meinungsäußerung.

Wie bekämpft man den Faschismus? Am besten mit politischen und gesellschaftlichen Maßnahmen. Der erste Schritt auf dem Weg zu einer flachen und gerechten Welt ist Transparenz: ehrlich zugeben, wo man Fehler gemacht hat, und eine ernstgemeinte, systematische Bemühung, es wiedergutzumachen. Eine Gesellschaft, die nicht auf Hierarchie, sondern auf Gerechtigkeit beruht, ist auch eine Gesellschaft, in der es weder Armut und noch Reichtum gibt. Also ist der zweite Schritt im Kampf gegen den Faschismus die finanzielle Freiheit und Gleichheit aller Menschen und die Abschaffung des Reichtums. Die ideologischen Wurzeln in den Köpfen bekämpft man mit Bildungs- und Demokratisierungsprojekten der Zivilgesellschaft. Politische Bildungseinrichtungen, Beratungsstellen für Betroffene rechter Gewalt, Freiwilligendienste und soziale Initiativen. Eine radikale und wirksame Demokratie setzt die Möglichkeit, die komplette Entkriminalisierung, der zivilen Intervention in jedem Bereich, voraus.

Mehr Überwachung ist keine Lösung

Was in Deutschland stattdessen passiert: Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander, die Ungleichheit wächst. Die Ampelregierung verhält sich schwarz-blau und instrumentalisiert jede Gelegenheit für rassistische Abschiebedebatten, wie den 7. Oktober oder den Angriff in Mannheim. Gleichzeitig kürzt die Bundesregierung die Mittel für Demokratisierungsprojekte der Zivilgesellschaft. Jährlich sind mehr Menschen als zuvor von Armut betroffen, jährlich werden Reiche noch reicher, jährlich müssen mehrere Einrichtungen gegen den Faschismus ihre Arbeit einstellen, weil sie nicht mehr gefördert werden. Und jetzt kündigt die gleiche Bundesregierung noch mehr Befugnisse für die Polizei und mehr Geld für noch mehr Polizist*innen an, weil ein mutmaßlicher Islamist in Mannheim einen Polizisten erstochen hat.

Stabil bleiben gegen Rechts

Rechtsextremismus ist die größte Bedrohung für unsere Demokratie. Trotzdem kooperieren demokratische Politiker*innen immer wieder mit der AfD. Durch Zusammenarbeit und gemeinsame Abstimmungen werden rechtsextreme Positionen normalisiert.  Auf WeAct, der Petitionsplattform von Campact, fordern Tausende Menschen von den demokratischen Parteien ein klares Versprechen: Keine Zusammenarbeit mit der AfD!

Wir müssen uns über eines im Klaren sein: Die Polizeibeamt*innen gibt es nicht, um uns vor Islamist*innen zu schützen. Es gibt sie, um die Interessen der politischen und wirtschaftlichen Elite vor uns zu schützen. Mehr Überwachung bringt nicht mehr, sondern weniger Gerechtigkeit und Sicherheit. Mehr Flugzeuge, die mit Geflüchteten gefüllt werden, die abgeschoben werden sollen, sorgen nicht dafür, dass es Menschen mit sicherem Aufenthaltsstatus besser geht. Mit solchen Maßnahmen rückt die Ampelkoalition nach der Europawahl weiter nach rechts. Sie scheint zu hoffen, auf diese Weise den rechten Parteien die Wähler*innen wegzunehmen, und sieht nicht, dass sie dadurch mehr Wähler*innen an rechte Parteien verliert. Rechtsruck ist Rechtsruck.

Wir müssen jetzt wehrhafter werden als je zuvor. Wir müssen uns jetzt besser zuhören, wir müssen uns fester zusammenschließen. Denn die Zeit läuft uns davon.


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Autor*innen

Sibel Schick kam 1985 in Antalya, der Türkei, auf die Welt und lebt seit 2009 in Deutschland. Sie ist Kolumnistin, Autorin und Journalistin. Schick gibt den monatlichen Newsletter "Saure Zeiten" heraus, in dem sie auch Autor*innen, deren Perspektiven in der traditionellen Medienlandschaft zu kurz kommen, einen Kolumnenplatz bietet. Ihr neues Buch „Weißen Feminismus canceln. Warum unser Feminismus feministischer werden muss“ erscheint am 27. September 2023 bei S. Fischer. Ihr Leseheft "Deutschland schaff’ ich ab. Ein Kartoffelgericht" erschien 2019 bei Sukultur und ihr Buch "Hallo, hört mich jemand?" veröffentlichte sie 2020 bei Edition Assemblage. Im Campact-Blog beschäftigte sie sich ein Jahr lang mit dem Thema Rassismus und Allyship, seit August 2023 schreibt sie eine Kolumne, die intersektional feministisch ist. Alle Beiträge

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