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Erinnern heißt Verändern

Wir alle verdienen es, frei von Angst und Diskriminierung zu leben – fordert Sibel Schick zum Internationalen Tag gegen Rassismus. Über den Krieg in Gaza, das Gegeneinanderausspielen von Rassismus und Antisemitismus und warum nur Solidarität uns stärker macht.

Zwei Personen stehen draußen vor einem Bürogebäude und halten Schilder. Auf den Schildern der linken Person steht: "Juden sagen: Nicht in unserem Namen" und "Jews say: Criticizing Israel is not Antisemitism." Auf dem Schild der rechten Person steht: "Descendants of Holocaust Survivors for Palestine".
Protestierende bei einer Demo gegen den Krieg in Gaza, Ende Januar in New York . Foto: IMAGO / SOPA Images

Heute ist der Internationale Tag gegen Rassismus. Im Jahr 1966 erklärte der UN-Weltsicherheitsrat den 21. März zum Internationalen Tag gegen Rassismus, genauer gesagt zum Tag für die Beseitigung der „Rassendiskriminierung“. Da es keine menschlichen Rassen gibt, ergibt die Umbenennung in den „Tag gegen Rassismus“ Sinn. Vermeintliche Menschenrassen sind nicht die Ursache, sondern die Folge von Rassismus. Deshalb sprechen wir auch bei Antisemitismus und antimuslimischem Rassismus von bestimmten Formen des Rassismus, auch wenn ihre Erscheinung und Wirkung anders sein können. Die konstruierte Andersartigkeit, sei es eine vermeintliche Minderwertigkeit oder eine vermeintliche verschwörerische Überlegenheit, und die damit folgende Entmenschlichung kann Menschen jederzeit beliebig zugeschrieben werden. Rassismus ist flexibel und anpassungsfähig.

Sibel Schick ist ist Kolumnistin, Autorin und Journalistin. Im Campact-Blog schreibt sie eine Kolumne, die intersektional feministisch ist. Lies hier ihre Beiträge:

Wo Selbstverteidigung endet

Am 7. Oktober griff die Hamas mit einem Terroranschlag jüdische Menschen in Israel an, tötete 695 Zivilistinnen, übte sexualisierte Gewalt aus, entführte 240 Menschen. Daraufhin rief der israelische Premier Benjamin Netanjahu den Krieg aus, seitdem wird Gaza flächendeckend angegriffen. Dass die Hamas eine Terrororganisation ist und der 7. Oktober ein Terrorangriff war, steht außer Frage. Was auch nicht zur Debatte stehen sollte, ist die Tötung palästinensischer Zivilistinnen.

Aktuell drohen Hunderttausende Menschen in Gaza zu verhungern, ein Großteil davon sind Kinder. Seit Oktober wurden in Gaza 12.400 Kinder getötet. Das sind laut UN-Angaben mehr als in den Kriegen der letzten vier Jahre. Schwangere Frauen in Gaza hungern, Neugeborene hungern. All das wird in Deutschland kühl debattiert, weil es debattiert werden kann. Dem liegt die Dämonisierung palästinensischer Menschen zugrunde. Lassen Sie uns darüber reden, ob das vielleicht doch ziemlich in Ordnung ist, palästinensische Kinder und Schwangere verhungern zu lassen und unschuldige Zivilist*innen zu bombardieren – mal sehen, wohin uns die Diskussion hinführt. Spannend.

Man kann das Töten von Zivilist*innen in Gaza nur durch die Dämonisierung rechtfertigen, wenn man sie pauschal als Terrorist*innen diffamiert und entmenschlicht. Sobald eine Gruppe entmenschlicht wurde, ist ein Gespräch über Einzelheiten und Lösungsansätze nicht länger notwendig, weil jede Bekämpfung des Bösen legitim und notwendig ist. Dass die Tötung von Zivilist*innen keine Selbstverteidigung ist, musste selbst der Bundeskanzler Olaf Scholz vor wenigen Tagen während seiner gemeinsamen Pressekonferenz mit Netanjahu zugeben. Was in Gaza passiert, ist nicht hinnehmbar.

Gegenüberstellung macht uns schwächer

Antisemitismus ist in Deutschland ein reales Problem, auch wenn Deutschland international den Eindruck erwecken möchte, das Problem an der Wurzel gepackt zu haben. Allerdings diskutiert Deutschland seit dem 7. Oktober wieder vermehrt über einen vermeintlich importierten Antisemitismus. Es ist ja nicht nur so, dass palästinensische Menschen in Gaza pauschal zu Terrorist*innen erklärt werden. Auch diejenigen, die dem widersprechen, die sich für einen Waffenstillstand und eine langfristige Lösung aussprechen, werden als antisemitisch diffamiert.

Was bringt uns das, wenn wir jüdische Menschen mit der israelischen Politik gleichsetzen, gerade jetzt, wo so viele israelische Menschen gegen ebenjene Politik und für die Verteidigung ihrer Demokratie auf die Straße gehen? Und was ist mit den so vielen linken jüdischen Stimmen in Deutschland, die sich lautstark mit palästinensischen Zivilist*innen solidarisieren? Wie zynisch ist es eigentlich, dass die Nachkommen von Nationalsozialist*innen jetzt teilweise jüdische Menschen des Antisemitismus beschuldigen? Während sie muslimische Menschen beschuldigen, den Antisemitismus überhaupt erst nach Deutschland gebracht zu haben. Alle anderen sind antisemitisch, nur die Nachfahren von Nationalsozialist*innen nicht.

Menschen, die von Rassismus und Antisemitismus betroffen sind, sind keine Gruppen, die in Konkurrenz zueinander stehen müssen; ihre Interessen müssen sich nicht ausschließen. Diese Trennung und Gegenüberstellung ist ein künstliches Konstrukt, das uns spaltet und schwächer macht. Solidarität dagegen macht uns stärker. Wir alle verdienen es, frei von Angst und Diskriminierung und in Würde zu leben. Es wäre gut für uns alle und für unsere Demokratie, wenn wir uns an dem heutigen Internationalen Tag gegen Rassismus daran erinnern. Denn Erinnern heißt Verändern.

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Autor*innen

Sibel Schick kam 1985 in Antalya, der Türkei, auf die Welt und lebt seit 2009 in Deutschland. Sie ist Kolumnistin, Autorin und Journalistin. Schick gibt den monatlichen Newsletter "Saure Zeiten" heraus, in dem sie auch Autor*innen, deren Perspektiven in der traditionellen Medienlandschaft zu kurz kommen, einen Kolumnenplatz bietet. Ihr neues Buch „Weißen Feminismus canceln. Warum unser Feminismus feministischer werden muss“ erscheint am 27. September 2023 bei S. Fischer. Ihr Leseheft "Deutschland schaff’ ich ab. Ein Kartoffelgericht" erschien 2019 bei Sukultur und ihr Buch "Hallo, hört mich jemand?" veröffentlichte sie 2020 bei Edition Assemblage. Im Campact-Blog beschäftigte sie sich ein Jahr lang mit dem Thema Rassismus und Allyship, seit August 2023 schreibt sie eine Kolumne, die intersektional feministisch ist. Alle Beiträge

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