Rechtsextremismus
Fußball-Märchen – Ein Wir wird zum Wir
18 Jahre nach dem "Sommermärchen", der Weltmeisterschaft im eigenen Land, soll die EM 2024 eine Neuauflage dieses Märchens werden. Das bringt die gleichen Probleme mit sich wie die WM 2006 – und noch mehr.
Die Fahnen flattern an Autos, werden als Umhang getragen; der Jubel halt von den Plätzen durch die Straße. Die Farben Schwarz-Rot-Gold zieren manche Wangen, mal dick, mal dünn aufgetragen. Ein „Wir“ erhebt sich wieder. Bei jeder Ballabgabe stoßen wir vor, bei jedem Zweikampf kämpfen wir, bei jedem Torschuss schießen wir mit. Wir feiern ein Eins-zu Eins-Unentschieden. In den ersten drei Spielen der deutschen Nationalmannschaft war der Sound der Kommentator*innen einhellig: Der Sport vereint, der Fußball verbindet. Das verkünden auch Politiker*innen. Die Feuilletonist*innen hoffen, dass nach der Zerrüttung der Gesellschaft durch die Covid-19-Pandemie, dem Krieg in der Ukraine und der Asylsituation der Zusammenhalt wächst. „Wir“ wieder zu einem „Wir“ werden. Das „Sommermärchen“ von 2006 soll sich zur EM 2024 wiederholen. Ein bisschen Patriotismus muss sein. Mit der im Sport gängigen Kriegsmetaphorik und Heroisierung. Oder besser nicht?
Sommermärchen mit weißen Flecken
Ein Märchen ist ein Märchen. Vor achtzehn Jahren schadeten die „Deutschland Deutschland“-Rufe und die Schwarz-Rot-Gold-Beflaggung doch der deutschen Gesellschaft nicht, könnte man meinen. Bunt vereint feierten Manfred und Ali, Sabine und Hatice, als „wir Deutsche“ die Welt zu Gast in Deutschland hatten. Ein „Ruck“ ging durchs Land. In dem heutigen Märchen wird dann allerdings nicht mehr alles erzählt.
Rückblickend verschwindet die Unerwünschtheit der vorsichtigen Hinweise von Moctar Kamara, der stellvertretend für den Vorstand des Afrika-Rates in Deutschland sprach: Um schwarze WM-Besucher*innen vor rassistischer Gewalt zu warnen, wollten die Organisatoren des Rates vor No-go-Areas besonders im Osten der Republik warnen und den Tourist*innen allgemeine Handlungsempfehlungen mitgeben.
Die rassistische Gewalt stieg in der Zeit deutlich, betont Heike Kleffner, Geschäftsführerin des Verbands der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt. Auch das wurde während der WM allerdings kaum bis gar nicht groß öffentlich diskutiert. Kleffner weißt ebenso auf den gesellschaftspolitischen Kontext hin: Die NPD zog in den Landtag in Mecklenburg-Vorpommern ein; in den Ermittlungen zum NSU gab es erste Hinweise auf rechtsextremistische Motive, die aber vorerst verdeckt gehalten wurden.
Wie Nationalismus, Patriotismus und Fremdenfeindlichkeit zusammenhängen
Diese Kontextualisierung konkretisierten Julia Becker, Ulrich Wagner und Oliver Christ schon Ende 2006 in der Veröffentlichung „Deutsche Zustände. Folge 5“. In der Studie zur gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit erläutern die Autor*innen um Herausgeber Wilhelm Heitmeyer ihre Ergebnisse genauer.
„Empirisch zeigt sich, dass eine starke, undifferenzierte Bindung an das eigene Land und die eigene Nation oft mit der Abwertung von Personen und Gruppen einhergeht, die diesem Land oder dieser Nation nicht zugerechnet werden.“
Deutsche Zustände. Folge 5.
Ihre Erhebungen vor und nach der WM zeigten, wie der „schwarz-rot-goldene Begeisterungstaumel“ vom „Sommermärchen“ nationalistische Einstellungen verstärkte, die eng mit fremdenfeindlichen Vorstellungen verbunden sind. „Je höher die Identifikation mit und der Stolz auf Deutschland, desto stärker werden Fremdgruppen abgewertet“, so Becker, Wagner und Christ. Der „Party-Patriotismus“ ist eben auch nicht bloß eine Party. Der nationalistische Taumel führe nicht nur zu „einem Anstieg des Nationalismus“, sondern auch zu einer Abwertung der „Wertschätzung von demokratischen Werten“.
Rassismus? Besser erst gar nicht zum Thema machen
Dieser anhaltende Prozess passt nicht zum erzählten Märchen, als das die EM 2024 gesehen werden soll. Die gegenwärtige Erzählung beginnt aber nicht mit der anhaltenden Ausblendung – sie läuft bereits mit einem neuen Nicht-Wahrnehmen-Wollen. Das aktuelle EM-Motto „United by Football“ soll wie das WM-Motto 2006 „Die Welt zu Gast bei Freunden“ doch nicht unterminiert werden. Der DFB nahm die repräsentative Umfrage des WDR, nach der 21 Prozent der Befragten sich wünschten, dass in der Nationalmannschaft mehr weiße Spieler kicken würden, verschnupft auf. Bundestrainer Julian Nagelsmann und Nationalspieler Josua Kimmich sprachen sich gegen die „rassistische Erwartungshaltung“ aus. Nagelsmann beklagte, „dass solche Fragen gestellt werden – und, dass Menschen darauf antworten“. Kimmich störte die Frage ebenso. Wer stellt denn auch solche Umfragen, wenn gerade ein neues Sommermärchen erlebt und erzählt werden soll?
Die Sehnsucht nach einem schönen Märchen und das Bedürfnis, die harte Wirklichkeit auszublenden, sind nachvollziehbar. Doch: „Wenn du das Radio ausmachst, wird die Scheißmusik auch nicht besser“ sang bereits 2017 die Band Kettcar. Eine Metapher für alle versuchten Ausblendungen. Das bewusste, sowie unbewusste Wegschauen und Nicht-Hinsehen spielt allen menschenverachtenden Bestrebungen und Bemühungen zu. Sie ermöglicht, dass die demokratisch-humanistischen Werte weiter eingeschränkt werden. Während der Spiele der EM 2024 läuft derweil eine weitere Ausblendung: das Kaum-Hinterfragen der geplanten Asylverschärfungen. Rot-Grün-Gelb läuft Blau hinterher. Der Erfolg des „autoritären Nationalradikalismus“ (Wilhelm Heitmeyer) begann nicht erst mit der Gründung der selbsternannten Alternative für Deutschland.