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Eine Philosophie über die Verlogenheit der EU-Asylpolitik

Mit der Auslagerung von Asylverfahren in Nachbarländer treibt die Europäische Union ihre Politik der Abschottung und Abgrenzung von voran. Die aus Albanien stammende Philosophin Lea Ypi kritisiert ihr Heimatland dafür, dass es dabei mitspielt.

Symbolbild: Ein hoher Zaun mit Stacheldraht und einer verbarrikadierten Tür. Die Tür ist blau lackiert, auf ihr sind die Sterne der Europa-Flagge.
Foto: IMAGO / Shotshop

Die albanisch-britische Philosophin Lea Ypi hat keine Illusionen, was die dem Namen nach „sozialistische“ Regierung ihrer Heimat unter Ministerpräsident Edi Rama angeht. „Die albanische Regierung sagt, sie sei links, tatsächlich ist sie neoliberal“, sagte Ypi im Juni, als sie eine dreitägige Vorlesungsreihe vor hunderten von Besucher:innen im Berliner Haus der Kulturen der Welt bestritt. „Das ganze Land wird beherrscht von Oligarchen.“

Die gebürtige Albanerin Lea Ypi, 44, ist inzwischen Professorin an der renommierten London School of Economics. Nach den „Walter Benjamin Lectures“ feierte sie der Spiegel überschwänglich. Eine „moralische Sozialistin“, „eine der interessanten europäischen Denkerinnen“, ein „Star“, der charismatisch, lustig und voller scharfem Geist sei.

Es sind verdiente Etiketten für eine Frau, die zu vielen Dingen extrem kluge Dinge sagt. Eines ihrer Themen ist die europäische Flüchtlingspolitik, genauer: die systematische Verlogenheit der europäischen Asyl- und Flüchtlingspolitik. Die steht aktuell wieder besonders im Fokus, nachdem sich Edi Rama und seine rechtsextreme italienische Kollegin Giorgia Meloni geeinigt haben, zwei Internierungslager in Albanien zu errichten. Eines im Hafen des Badeortes Shëngjin und eines 15 Kilometer weiter nördlich, in Gjadër. 3000 Menschen sollen dort gleichzeitig in Haft gehalten werden. Die Bauarbeiten sind längst im Gange, die Eröffnung ist aktuell im November geplant. In Rom ließ man durchblicken, dass Meloni die Sache beim Familien-Sommerurlaub in Albanien geregelt habe.

Albanien-Modell bekommt Zustimmung

Im Mai äußerte die deutsche Innenministerin Nancy Faeser Sympathien für das Albanien-Modell. „Ich schaue mit Spannung darauf, was Italien gemeinsam mit Albanien macht“, sagte sie dem Stern. Das Lob der SPD-Politikerin steht in krassem Kontrast zur Kritik von Menschenrechtsorganisationen an den italienisch-albanischen Plänen. Und zeigt, wie groß die Versuchung der Scholz-Regierung ist, eine Abschottungspolitik zu forcieren, wie sie von Rechtsradikalen in den europäischen Ländern immer lauter gefordert wird. Das hässliche Modell soll Schule machen. Die taz berichtete, die Ampel-Koalition habe 2023 den FDP-Politiker Joachim Stamp als „Migrationsbeauftragten“ ernannt – um ihn „seither erfolglos“ nach Ländern suchen zu lassen, in die Deutschland seine Asylverfahren auslagern könne.

Seenotrettung darf nicht behindert werden!

Bundesverkehrsminister Wissing (FDP) plant, die Sicherheitsvorschriften für zivile Seenotrettungsschiffe deutlich zu erhöhen. Viele deutsche Rettungsorganisationen müssten dadurch ihre Arbeit einschränken oder sogar einstellen, weil sie nicht das Geld haben für den Umbau der Schiffe.

Eine Petition auf WeAct, der Petitionsplattform von Campact, fordert Wissing auf, die neuen Vorschriften nicht einzuführen. Lies hier mehr:

„Willkürliche Inhaftierung, kein effektiver Zugang zu Rechtsschutz, Gefahren für das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit von Menschen in Seenot“ benennt Amnesty International die Risiken des italienisch-albanischen Abkommens. Brot für die Welt befürchtet, dass die Kosten des Italien-Albanien-Deals – sie sollen mehr als 600 Millionen Euro betragen – zumindest teilweise aus Töpfen der Entwicklungszusammenarbeit kommen sollen. Ärzte ohne Grenzen kritisiert die EU für eine „Politik der Abschottung, Abschreckung und Ausgrenzung“. Mit den Plänen werde EU-Recht umgangen, erklärt Pro Asyl.

Das Deutsche Institut für Menschenrechte weist unter anderem auf die Gefahr hin, „dass Traumatisierte, Minderjährige und Betroffene von Menschenhandel oder Folter an Bord der italienischen Schiffe schwerlich als solche erkannt werden können“. Das genau aber habe Meloni mündlich versichert. Im Abkommen selbst fehle eine Ausnahmeregelung für besonders verletzliche Personen. Die Kritik an dem Deal reißt also nicht ab.

Alles, um der EU zu gefallen

Lea Ypi machte bei ihren Vorlesungen in Berlin klar, dass sie den italienisch-albanischen Abkommen in Kontinuität einer jahrzehntealten Widersprüchlichkeit sieht. Zu stalinistischen Zeiten hätten die Albaner:innen nicht reisen dürfen, sagte sie. Seit 1991, nach dem Fall des Regimes des 1985 gestorbenen Enver Hoxha, hätten die westlichen Staaten begonnen, ihre Grenzen zu schließen. „Letztlich haben sich nur die Farben der Uniformen geändert.“

In ihrem 2021 erschienenen Buch „Frei“ schreibt Ypi, vielleicht hätten die Kampagnen des Westens für Freizügigkeit der Osteuropäer:innen nie etwas bedeutet. Freizügigkeit sei „einfach zu verteidigen gewesen, solange andere die schmutzige Arbeit der Gefängniswärter erledigt hatten“.

Grenzen und Mauern sind aus Sicht der Philosophin aber nicht nur verwerflich, wenn Leute eingesperrt werden. Sondern auch, wenn sie draußen gehalten werden.

„Die Grenzposten, die Patrouillenboote, die Internierung und das Zurückdrängen von Migrantinnen und Migranten im Südeuropa jener Zeit waren die Vorreiter einer Praxis, die sich in den kommenden Jahrzehnten zum Standard entwickeln würde. Der Westen, anfangs noch unvorbereitet auf die Ankunft tausender Menschen, die sich eine andere Zukunft wünschten, würde bald ein System perfektioniert haben, das die Schwächsten aussortierte und die Fähigsten durchließ, während er gleichzeitig seine Grenzen absicherte, um ,unsere Lebensweise zu schützen‘.“

Lea Ypi

Die Zeit fragte Ypi im Juni: Warum das Abkommen mit Italien, warum tut Albanien das? Sie antwortete: „Weil es der EU gefallen und sich an deren Werte anpassen will. Migranten abzuschieben und in Lager zu stecken, scheint gerade das zu sein, was die EU will. Also beweist Albanien, was es alles bereit ist zu tun für die Mitgliedschaft.“ Tirana folge damit nur der Logik der EU, „auch wenn es moralisch natürlich nicht richtig ist“.

Anders ausgedrückt: Europa wird seine boshaften Seiten nicht los.

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Autor*innen

Matthias Meisner ist freier Journalist und Buchautor in Berlin und Tirana. Er schreibt über Menschenrechte, Geflüchtete und die Bedrohung der Demokratie. Zuletzt erschien 2023 im Herder-Verlag, gemeinsam herausgegeben mit Heike Kleffner, „Staatsgewalt – wie rechtsradikale Netzwerke die Sicherheitsbehörden unterwandern“. Infos unter www.meisnerwerk.de. Alle Beiträge

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