Agrar Ernährung
Nachbau von Saatgut: Rechtsstreit zur Erntezeit
Gerade laufen in Deutschland die Mähdrescher auf Hochtouren. Auf den Höfen ist Hochsaison. Dieses Jahr müssen sich Landwirt:innen jedoch zusätzlich mit einem Rechtsstreit darüber auseinandersetzen, unter welchen Bedingungen sie ihre Ernte überhaupt verkaufen dürfen.
Neben Wasser und Boden ist die Verfügbarkeit von Saatgut die elementare Grundlage jedes Ernährungssystems. Säen, pflegen, ernten, einen Teil der Ernte verspeisen oder verkaufen, den Rest der Ernte wieder aussäen, wieder pflegen, wieder ernten. So sah Landwirtschaft lange aus. Über Jahrtausende wurden dabei die ertragsreichsten, krankheits- und schädlingsresistentesten, leckersten, haltbarsten Pflanzen selektiert und vermehrt. Daraus entstanden ist die heute bestehende Kulturpflanzenvielfalt, ein gemeinsam erschaffenes Kulturgut der Menschheit.
Die Nutzung der eigenen Ernte für die erneute Aussaat heißt „Nachbau“. Und während Nachbau noch vor etwa 100 Jahren selbstverständlich war, werden um dieses Recht der Landwirt:innen heute erbitterte Auseinandersetzungen geführt.
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Saatgut-Nachbau als Geschäft
In den vergangenen 150 Jahren hat sich eine immer stärkere Arbeitsteilung zwischen Pflanzenzüchtung und Landwirtschaft herausgebildet. Züchter:innen wollen für ihre jahrelange Arbeit an einzelnen Sorten entschädigt werden. Landwirt:innen bestehen auf ihrem Recht auf freien Nachbau. In einer 1961 verfassten Konvention zum Schutz von Pflanzenzüchtung (UPOV) wurde deshalb ein „Sortenschutz“ für neu zugelassene Pflanzensorten vereinbart. Beim Kauf von geschütztem Saatgut fällt seither eine Lizenzgebühr an. Das Recht auf Nachbau blieb davon unberührt.
In den darauffolgenden Jahren wurde der Saatgutmarkt lukrativ für große Konzerne. Insbesondere für Chemieunternehmen, die im Zusammenspiel von Pflanzenschutzmittelproduktion und neuen kostenintensiven Züchtungsverfahren ein gewinnbringendes Geschäft vermuteten. Das Recht auf Nachbau reduzierte aus Sicht der Konzerne die Gewinnmarge. Eine Auffassung, die Eingang in die Überarbeitung der UPOV 1991 und in das Sortenschutzrecht der EU fand. Seit 1998 sollen Landwirt:innen in Deutschland für den Nachbau von Saatgut Geld bezahlen. Nicht-gemeldetes nachgebautes Saatgut sowie daraus wachsende Produkte dürfen nicht verkauft werden.
Über 20 Jahre Gerichtsverfahren
In Deutschland vertritt der Bund der Deutschen Pflanzenzüchter (BDP) die Interessen großer Züchtungsunternehmen. Als eine Art Vollzugs- und Inkassounternehmen gründete er die Saatgut-Treuhandverwaltungs GmbH (STV). Weil der Deutsche Bauernverband (DBV) den Forderungen der Züchter:innen nichts entgegen setzte, gründeten Landwirt:innen der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft 1998 die Interessengemeinschaft Nachbau (IG Nachbau). Diese vertritt und berät bis heute über Verbandsgrenzen hinweg Landwirtschaftsbetriebe, die sich an sie wenden.
Seit 1998 lässt sich die Auseinandersetzung zwischen Züchtungsunternehmen und Landwirt:innen in Deutschland als Abfolge von Gerichtsverfahren erzählen. Es gab viele Klageverfahren vor dem Bundesgerichtshof (BGH) und vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH). Acht Verfahren in Karlsruhe und vier Verfahren in Luxemburg hat die IG Nachbau gewonnen.
Aktuell führt ein BGH-Urteil vom November 2023 zu Auseinandersetzungen um die Frage, welche Informationen der Getreide-Landhandel oder Mühlen erheben müssen, wenn sie Erntegut von Landwirtschaftsbetrieben aufkaufen. Dem Urteil nach müssen „Agrarhandel, also etwa Genossenschaften, Erfasser und Lagerhäuser durch ‚geeignete Maßnahmen‘ sicherstellen […], dass das Erntegut von den Betrieben ordnungsgemäß erzeugt wurde“. Eine kritische Frage für Höfe, die bisher unter dem Radar gefahren sind und Saatgut nachgebaut haben, ohne es der STV zu melden. Einige große Handelshäuser wie BayWa und Agrarvis verlangen nun eine Unterschrift unter Lieferantenerklärungen, laut denen bei Verstößen hohe Vertragsstrafen drohen. Die IG Nachbau erzielte Mitte Juni einen Teilerfolg, als die Raiffeisen Waren-Zentrale Rhein-Main AG (RWZ) auf Druck von Rechtsanwälten eine ähnliche Erklärung zurücknahm.
Der Streit geht weiter
Während unter Landwirt:innen und kleineren Handelsunternehmen große Unsicherheit herrscht, versucht die STV ein System so genannter „Erntegutbescheinigungen“ einzuführen. Damit will sie Landwirt:innen zur Herausgabe so vieler betriebsinterner Informationen verpflichten, dass alle Landwirtschaftsverbände den Vorschlag als unverhältnismäßig und kartellrechtlich bedenklich zurückweisen.
Das Vorgehen von BDP und STV ist auch vielen kleinen und mittleren Züchtungsunternehmen zu aggressiv. Doch solange kein Gegenvorschlag existiert, der die Arbeit von Züchter:innen honoriert und das Recht auf Nachbau garantiert, wird diese Auseinandersetzung vor Gericht weitergehen.
Eine klare Richtung bezüglich der Nachbau-Rechte gibt übrigens Artikel 19 der UN Declaration on the rights of peasants (deutsch: Erklärung für bäuerliche Rechte der Vereinten Nationen) vor. Er besagt beispielsweise:
[…] Article 19 provides that peasants and other people working in rural areas have the right to maintain, control, protect and develop their own seeds and traditional knowledge.
The United Nations Declaration on the Rights of Peasants and Other People Working in Rural Areas (UNDROP)
Also: „Artikel 19 sichert Bauern und anderen Arbeitern in ländlichen Regionen das Recht, ihr eigenes Saatgut und traditionelles Wissen zu erhalten, kontrollieren, schützen und weiterzuentwickeln.“ (eigene Übersetzung)
Der Artikel wurde im Dezember 2018 mit 121 Ja- von 193 möglichen Stimmen verabschiedet. Deutschland hat sich bei der Abstimmung darüber enthalten.