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Der Verkehrssektor auf Irrwegen

Preiserhöhung beim Deutschlandticket einerseits, ein Gipfeltreffen zur Rettung der Autoindustrie andererseits: Die jüngsten politischen Signale für den Verkehrssektor gehen in die falsche Richtung.

Eine Reihe von Fahrzeugrahmen für E-Autos in einem VW-Werk, stellvertretend für den Verkehrssektor.
Foto: IMAGO / Uwe Meinhold

Die Prioritätensetzung der deutschen Verkehrspolitik „in a nutshell“: Während auf dem sogenannten Autogipfel über Zukunft beziehungsweise Rettung der Autoindustrie beraten wird, beschließen die Verkehrsminister*innen eine Preiserhöhung für das Deutschlandticket. Es lohnt sich, diese beiden Ereignisse genauer unter die Lupe zu nehmen, da sie wie ein Brennglas für die aktuelle Verkehrspolitik wirken.

Autokonzerne in der Opferrolle

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Was bei der medialen Berichterstattung zuweilen untergeht: „Gerettet“ werden müssen die Autokonzerne rund um VW, BMW und Mercedes sicher nicht. Gut 26 Milliarden Euro Vorsteuergewinn erzielte jene Gruppe an Weltkonzernen in der ersten Jahreshälfte, die am Montag mit Wirtschaftsminister Habeck (Grüne) zusammenkam. Mit Forderungen nach Kaufprämien für E-Autos, lascheren CO₂-Vorschriften und der Verschiebung des Verbrenner-Aus versuchen die Autokonzerne, die Bundesregierung unter Druck zu setzen. Dabei haben sich die Unternehmen selbst in die fossile Sackgasse gefahren.

  • Zu lange haben sich die Autokonzerne Zukunftstechnologien verschlossen, setzten auf „Clean Diesel“ und ruhten sich auf den margenträchtigen SUV-Verbrennern aus.
  • Statt in die Mobilitätswende und E-Autos zu investieren, stiegen die Ausschüttungen an Aktionäre – 2023 allein bei VW, BMW und Mercedes auf 31 Milliarden Euro.
  • Die gut vernetzte Autolobby setzt politische Entscheidungsträger:innen massiv unter Druck, um die klimaschützende Wirtschaftstransformation ausbremsen. Mit den sinkenden Verbrenner-Verkäufen in China und den schwachen E-Auto-Verkaufszahlen erntet sie die Früchte ihrer fossilen Saat.
  • Mit dem Diesel-Skandal hat der VW-Konzern Verbraucher:innen und die ihn hofierende Politik betrogen, indem er bis 2015 die Lüge vom sauberen Diesel verkaufte.

Die deutsche Autoindustrie – Straucheln mit Ansage

Ergo: Das, was gerade als Krise der Autobranche bezeichnet wird, ist hausgemacht. Vier von zehn Autounternehmen klagen über fehlende Aufträge, bei Volkswagen und Mercedes-Benz wurden Schichten gestrichen. Ein Hauptgrund: die Absatzflaute in China, dem weltweit größten PKW-Markt. Dort sank der Marktanteil deutscher Hersteller im ersten Halbjahr 2024 auf 21 Prozent. Die chinesischen Autobauer und die in China ansteigende, staatlich subventionierte Popularität der E-Mobilität wurden von den deutschen Autobauern unterschätzt. Seit 2006 wird die E-Mobilität dort systematisch aufgebaut.

In Deutschland hingegen schwächelt die Elektromobilität. Im August wurden 69 Prozent weniger E-Autos zugelassen als im Vorjahresmonat. Ein Grund ist die seit Ende 2023 ausgesetzte Förderung. Vor allem aber werden deutsche Hersteller dafür bestraft, dass sie seit Jahren keine preiswerten E-Autos auf den Markt bringen. Und der Konkurrenzdruck von chinesischen Herstellern wie BYD steigt – inzwischen hat die EU Strafzölle auf chinesische E-Autos verhängt. Umso absurder, dass die deutschen Autobauer jetzt eine Stärkung des Verbrenners fordern. Ebenso realitätsfern ist die Kampagne von Verbrenner-Liebhabern rund um BILD-Zeitung, FDP-Präsidium und Freie-Wähler-Chef Aiwanger, die das Verbrenner-Aus 2035 für die Misere der deutschen Autoindustrie verantwortlich machen. Genau das ist der Sargnagel der Autoindustrie.

Verbrennerfreundliche Politik in Deutschland

Neben dem schlechten Management bei VW und Co. liegen die Ursachen für das Straucheln auch in der verbrennerfreundlichen CDU/CSU-Politik der letzten Jahrzehnte. Die Union duldete die Trägheit der Autokonzerne bei der E-Mobilität und versuchte in Brüssel immer wieder, die Rahmenbedingungen für einen klaren Einstieg in die E-Mobilität zu verhindern. Dieses Jahr wurde die Euro-7-Abgasnorm beschlossen. Die bisherigen Schadstoffvorgaben von Benzinern und Dieselmodellen blieben einfach bestehen. Anstatt Umweltschutz durch strengere Richtlinien umzusetzen, wurde dem Druck der Autolobby nachgegeben. Exemplarisch für die Präsenz der Fossil-Freunde in Brüssel:  Jens Gieseke, verkehrspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Gruppe im Europaparlament.

Wie geht es weiter nach dem Autogipfel?

Beim Autogipfel wurde wenig Konkretes besprochen – und das ist richtig. Anstatt wie früher einfach den Forderungen der Autolobby nachzukommen, will Habeck besonnen sondieren. Entscheiden muss er sich trotzdem: Entweder er gibt den Wünschen der Autoindustrie nach, was zu Lasten des Klimaschutzes gehen würde – etwa indem er wie gefordert bei den europäischen CO₂-Grenzwerten auf eine Verschiebung drängt. Oder Habeck initiiert und setzt neue Konzepte um: mit dem klaren Fokus, dass im Autosektor für mehr Klimaschutz nichts ohne E-Mobilität geht. Statt die E-Auto-Prämie wieder einzuführen, wie VW das gerne hätte, sollte der Tausch von Verbrennern gegen E-Autos sozial gestaffelt gefördert werden – für Menschen in ländlichen Räumen oder mit niedrigen Einkommen.   

„Sozial-Leasing“ aus Frankreich als Inspiration

In Frankreich wurde mit großem Erfolg das sogenannte „Sozial-Leasing“ eingeführt, um Menschen mit geringem Einkommen, die auf ein Auto angewiesen sind, beim Umstieg auf Elektroautos zu unterstützen und gleichzeitig die heimische E-Auto-Industrie zu fördern. Innerhalb kürzester Zeit wurden fast 35.000 Förderanträge gestellt. Wie funktioniert das? Haushalte mit niedrigem Einkommen – bis zu 15.400 Euro pro Jahr pro Haushaltsmitglied – können seit Januar 2024 E-Autos ab 54 Euro monatlich leasen. Neben dem Einkommen spielt auch die geografische Entfernung zum Arbeitsplatz eine Rolle: Die Antragsteller müssen entweder mindestens 15 km vom Arbeitsplatz entfernt wohnen oder jährlich mehr als 8.000 km beruflich zurücklegen. Der Staat bezuschusst jedes geleaste Auto mit bis zu 13.000 Euro. Zusätzlich wird der Öko-Bonus für Elektroautos reformiert, um bevorzugt in Europa produzierte Modelle zu fördern.

Intel-Milliarden für Elektromobilität aufwenden

Woher bekommt Deutschland Geld für solche Mobilitätswendekonzepte? Mittelfristig über eine reformierte Schuldenbremse, kurzfristig durch 10 Milliarden Euro, die eigentlich für den Bau der Intel-Fabrik in Magdeburg vorgesehen waren. Rund vier Milliarden Euro hätte Intel schon im kommenden Jahr erhalten, das Projekt liegt nun für vorerst zwei Jahre auf Eis. Finanzminister Lindner will mit dem Geld Haushaltslöcher stopfen, Wirtschaftsminister Habeck will die Milliarden im Klima- und Transformationsfonds belassen. Dieser Fonds wäre eine ideale Ausgangsposition, um die Transformation der Automobilindustrie anzukurbeln – zum Beispiel eben durch Sozial-Leasing. Eine Umschichtung der Intel-Milliarden wäre das richtige politische Signal für die Mobilitätswende und ein gelungenes Beispiel für einen Fokus auf Klimagerechtigkeit.

Das Erfolgsmodell Deutschlandticket

Das Deutschlandticket ist bereits ein gelungenes Beispiel dafür, wie die Politik Anreize für eine klimafreundliche Mobilität setzen kann. Im Mai 2023 wurde es eingeführt, im ersten Jahr nutzten monatlich durchschnittlich rund 11,2 Millionen Kund*innen das Abo, davon jede*r zweite für Schul- oder Arbeitsweg. Dass die ÖPNV-Nutzungszahlen im ersten Halbjahr 2024 um sechs Prozent gestiegen sind, ist laut Statistischem Bundesamt auch auf das Deutschlandticket zurückzuführen.

Die Preiserhöhung als fatales Signal

Eine Preiserhöhung von 49 auf 58 Euro widerspricht jedoch dem Ziel, klimafreundliche Mobilität für alle zugänglich zu machen. Sie ist ein Schlag ins Gesicht der 30 Prozent, für die die bisherigen 49 Euro die Schmerzgrenze war – für ein Viertel der Deutschlandticketnutzer:innen liegt die Schmerzgrenze bei 59 Euro. Fatal: Verkehrsminister Wissing (FDP) kann die Preiserhöhung von fast 20 Prozent nicht einmal kohärent begründen. Denn die Kosten für das Deutschlandticket zu decken, ist keine Frage der finanziellen Möglichkeiten, sondern eine politische Entscheidung. Volker Wissing scheint die 24,8 Milliarden Euro, die für klimaschädliche Subventionen wie Dienstwagen und Kerosin zur Verfügung stehen, lieber in die Förderung von emissionsintensiven Verkehrsträgern zu stecken, als in ein bezahlbares ÖPNV-Angebot zu investieren.

Kurzfristige Investitionen und langfristiger Nutzen

Was droht, wenn das FDP-Verkehrsministerium seinen Kurs fortsetzt? Werden notwendige Bahn-Investitionen durch Umlage auf die Kund:innen finanziert, das heißt die Ticketpreise weiter erhöht, geht das zu Lasten niedriger Einkommensgruppen und die Anreize zur klimaschützenden Mobilität werden abgeschafft. Das wäre das Gegenteil von Klimagerechtigkeit. Für mehr Bahnreisende gibt es außerdem volkswirtschaftliche Gründe: Reißen Verkehrssektor und Gebäudesektor weiterhin die Klimaziele, müsste sich Deutschland Emissionszertifikate von anderen EU-Ländern kaufen. Zwischen 2021 und 2030 könnten diese bis zu 55 Milliarden Euro kosten. Das heißt: Ob Elektroautoindustrie oder Bahnsektor – heutige Investitionen zahlen sich doppelt aus, durch kurzfristigen Nutzen wie eine erhöhte Bahnnutzung in Folge niedrigerer Ticketpreise und durch langfristig vermiedene Strafzahlungen für zu hohe Emissionsausstöße.

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Autor*innen

Christoph Bautz ist Diplom-Biologe und Politikwissenschaftler. Er gründete 2002 gemeinsam mit Felix Kolb die Bewegungsstiftung, die Kampagnen und Projekte sozialer Bewegungen fördert. 2004 initiierte er mit Günter Metzges und Felix Kolb Campact. Seitdem ist er Geschäftsführender Vorstand. Zudem ist er Mitglied des Aufsichtsrats von WeMove, der europaweiten Schwesterorganisation von Campact, sowie der Bürgerbewegung Finanzwende. Alle Beiträge

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