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Eine Station vor Auschwitz

Gurs: Der Name ist kaum bekannt, dabei war das Konzentrationslager in Südfrankreich wichtige Zwischenstation im Holocaust. Heute vor 84 Jahren begannen die Deportationen dorthin.

Wegweiser und Mahnmal in Freiburg zur Erinnerung an die Deportation der Freiburger Juden am 22. Oktober 1940 in das Internierungslager Gurs
Wegweiser und Mahnmal in Freiburg zur Erinnerung an die Deportation der Freiburger Juden am 22. Oktober 1940 in das Internierungslager Gurs. Foto: IMAGO / Winfried Rothermel

Mit 88 Jahren führt Emile Vallés noch immer Besucher durch das ehemalige Internierungslager, zeigt die Standorte der Baracken und erzählt die Geschichte von Gurs. Er ist, wie er sagt, einer von nur noch zwei lebenden Zeitzeug*innen, die aus Gurs berichten können. Sein Vater kämpfte im Spanischen Bürgerkrieg und wurde 1939 von der französischen Regierung in dem zunächst provisorisch errichteten Lager Gurs interniert. Anstatt einfacher Gefangener zu bleiben, durfte Emiles Vater seinem alten Beruf nachgehen und im Lager als Briefträger arbeiten. 

Emile Vallés ist einer von noch zwei lebenden Zeitzeugen, die aus dem ehemaligen Internierungslager berichten.
Emile Vallés vor einer der 27 Steinstelen, die den Eingang des ehemaligen Internierungslager Gurs säumen. Foto: Lara Eckstein

Emiles Familie zog in die Nähe des Vaters, in den Ort neben dem Camp Gurs. Täglich ging der Vater im Lager ein und aus, überbrachte den Gefangenen Botschaften ihrer Liebsten. In den Schulferien half Emile ihm dabei. 

Zentrale Rolle im Holocaust

So erlebte Emile als kleiner Junge, wie sich Gurs 1940 – mit dem Einmarsch der Deutschen in Frankreich, dem Waffenstillstand und der Vichy-Regierung – zu einem grausamen Internierungslager wandelte, das im Holocaust eine entscheidende Rolle spielte. Ab 1940 war es für rund 20.000 Jüdinnen und Juden die letzte Station vor der Deportation in die Gaskammern von Auschwitz-Birkenau.

Gurs ist in Deutschland weit weniger bekannt als beispielsweise Dachau, Buchenwald oder Sachsenhausen. Auf den ersten Blick wirkt es auch logistisch völlig absurd, dass die Nationalsozialisten Tausende, laut Nürnberger „Rassegesetzen“ als jüdisch geltende Menschen, 1.200 Kilometer in den Südwesten Frankreichs deportierten, nur um sie zwei Jahre später in ein Vernichtungslager nach Polen zu schicken. Doch genau das geschah. Und Emile Vallés ist einer von nur wenigen Französ*innen, die versuchen, die Erinnerung aufrechtzuerhalten. 

Über 13.000 Menschen wurden nach Gurs deportiert

Eine lebendige Erinnerungskultur ist wichtig – gerade, wenn es darum geht, zukünftig Taten zu verhindern und zu warnen. Lies hier alle Beiträge im Campact-Blog, die sich mit dem Erinnern von Ereignissen, Taten oder Jahrestagen befassen.

Heute vor 84 Jahren, am frühen Morgen des 23. Oktober 1940, riss die Gestapo jüdische Familien aus ihren Betten und zwang sie in Viehwagen nach Gurs. Die Nazis sprachen nicht von Deportationen, sondern von „Abschiebungen“. Die Wannsee-Konferenz hatte noch nicht stattgefunden, und die NS-Propaganda behauptete, es gehe „nur“ darum, alle als jüdisch eingestuften Menschen aus Deutschland zu entfernen. In Baden, der Pfalz und dem Saarland hieß das: 6.538 Menschen, darunter Babys und Greise. Sie alle wurden bis ans südöstliche Ende des in Teilen von deutschen Truppen besetzten, in Teilen kollaborierenden Frankreichs geschickt. Weitere 7.010 aus anderen französischen Lagern kamen ebenfalls nach Gurs. 

Unterernährung, Kälte, Grausamkeit 

Emile Vallés berichtet von der Unterernährung, der Kälte und den Krankheiten im Camp, an denen viele Alte schon im ersten Winter starben. Auf Französisch unterscheidet man zwischen den deutschen Konzentrationslagern und Gurs. „On les fait mourir“ oder „on les laisse mourir“: In Deutschland sorgt man aktiv dafür, dass sie sterben; in Frankreich lässt man sie sterben. 

Der Madagaskar-Plan

Schon Ende des 19. Jahrhunderts kursierte unter Antisemit*innen die Idee, die französische Kolonie Madagaskar zu einer Art Sterbeinsel für jüdische Menschen zu machen. Die NS-Größen Reinhard Heydrich und Adolf Eichmann wollten das im Sinne der „Endlösung“ in die Tat umsetzen. 

Gurs war als Lager für den Plan gut geeignet, weil es in der Nähe des Atlantik-Hafens Bayonne lag. Voraussetzung für die Verschiffung von Millionen Jüdinnen und Juden nach Madagaskar wäre aber der Sieg über Großbritannien gewesen, den die Nazis nicht erringen konnten. 

Das Vichy-Regime unter Philippe Pétain führte alles aus, was Adolf Hitler befahl. Nachdem der Madagaskar-Plan gescheitert war (siehe Info-Kasten) und im Januar 1942 auf der Wannsee-Konferenz die Vernichtungslager im Osten beschlossen wurden, folgte zwischen September 1942 und März 1943 die Deportation der Jüdinnen und Juden aus Gurs. SS und Wehrmacht organisierten den Abtransport über die Zwischenstation Drancy bei Paris in die Vernichtungslager; die Deutsche Reichsbahn verdiente daran. 

In Freiburg, Mannheim und anderen Städten, aus denen die Nazis in der Nacht vom 22. auf den 23. Oktober 1940 jüdische Mitbürger*innen nach Gurs deportierten, gibt es jedes Jahr Gedenkveranstaltungen. In Frankreich erinnert man am Journée de la Déportation, dem letzten Sonntag im April, an die Opfer der Deportation – auch in Gurs. 

27 Steinstelen zur Erinnerung

Dank der ehrenamtlichen Arbeit der Amicale du camp de Gurs säumen 27 Stelen aus Stein den Eingang des ehemaligen Lagerareals. Diese „Allee der Internierten“ erinnert an die vielen verschiedenen Menschen, die hier gefangen waren. 

Dazu gehörten neben Jüdinnen und Juden sowie Sinti und Roma auch:

  • Freiwillige der Internationalen Brigaden, die nach der Niederlage in Spanien gegen den Diktator Francisco Franco flohen und vom französischen Staat zunächst interniert wurden.
  • „Unerwünschte“, also Personen, die die französische Regierung einsperrte, bevor die Nazis Paris eroberten. Dazu gehörten Schriftsteller*innen, Gewerkschafter, kommunistische Abgeordnete und andere, die als politisch gefährlich galten (Kommunist*innen gehörten in Frankreich wegen des Nicht-Angriffspakts zwischen Stalin und Hitler zum Feindeslager). Die jüdische Philosophin Hannah Arendt war ebenso in Gurs wie die Kommunistin Herta Gordon-Walcher oder die Fluchthelferin Lisa Fittko.
  • Eine Stele erinnert an französische Frauen, die in Grenzorten mit deutschen Männern verheiratet waren. Die Männer meldeten sich freiwillig für die französische Armee, um gegen die Nazis zu kämpfen. Dennoch hielt man ihre Frauen für gefährlich, da sie sich „mit dem Feind“ eingelassen hatten, und sperrte sie in Gurs ein.
  • … und viele mehr.

Orte der Erinnerung 

Auf dem Gelände von Gurs gibt es neben dem Friedhof für die Verstorbenen folgende Erinnerungsorte:

  • Eine Gedenktafel aus dem Jahr 1994, die der damalige Präsident François Mitterrand errichten ließ;
  • die 27 Stelen, die die Amicale du camp de Gurs mithilfe von Spenden errichtet haben;
  • und die Rekonstruktion einer Holzbaracke des israelischen Künstlers Dani Karavan sowie einen geschichtlich nicht korrekten Nachbau von Eisenbahnschienen, die an die Deportation in die Vernichtungslager erinnern sollen.

Zum Weiterlesen

Claude Laharie: „Gurs 1939-1945. Ein französisches Internierungslager am Fuß der Pyrenäen“

Regina Scheer: „Bittere Brunnen. Hertha Gordon-Walcher und der Traum von der Revolution“

Lisa Fittko: „Mein Weg über die Pyrenäen, Erinnerungen 1940/41“

Der Abtransport zu den Vernichtungslagern begann eigentlich mit Lastwagen bis zum nächsten Bahnhof. Die einzige andere noch lebende Zeitzeugin, berichtet Vallés, überlebte nur, weil ihre Mutter sie vom fahrenden Lkw in die Arme einer Krankenschwester warf, ohne dass die Soldaten es bemerkten. Ihre Familie starb in Auschwitz. 

Hoffnung auf ein Museum in Gurs

Emile Vallés hofft, dass die Erinnerung an Gurs nicht verloren geht und wünscht sich ein Museum am Ort des Schreckens. Immerhin haben Schüler*innen aus Freiburg nach einem Besuch des Lagers zusammen mit ihrer Lehrerin eine Graphic Novel gezeichnet, die die Geschichte der Internierten nacherzählt. Damit wollen sie die Berichte der Zeitzeug*innen bewahren. 

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Autor*innen

Lara Eckstein hat im Journalismus-Studium Interviews mit Überlebenden des Holocausts geführt und ist seitdem glühende Antifaschistin. Bei Campact arbeitet sie als Campaignerin gegen Rechtsextremismus; privat ist sie als stadtpolitische Aktivistin in Berlin im Einsatz. Hier bloggt sie zu Erinnerungspolitik und gegen das Vergessen. Alle Beiträge

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