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Entlastendes Erinnern

Reden implizieren oftmals Verkürzungen. Beim Gedenken an die Opfer des Hamas-Angriffs fallen Rechtsextremismus-Experte Andreas Speit jedoch bestimmte Auslassungen auf.

Friedrich Merz in der 191. Sitzung des Deutschen Bundestages, bei der auch der Opfer des Hamas-Angriffs auf Israel, dem Leid der Angehörigen und der immer noch nach Gaza verschleppten Geiseln gedacht wurde.
Friedrich Merz in der 191. Sitzung des Deutschen Bundestages, bei der auch den Opfer des Hamas-Angriffs auf Israel, dem Leid der Angehörigen und der immer noch nach Gaza verschleppten Geiseln gedacht wurde. Foto: IMAGO / Future Image

Reden implizieren oftmals Verkürzungen. Keine These und kein Argument lässt sich in einer Rede vollständig ausführen, besonders bei knappen Redezeiten. Was wird gesagt, was nicht? Die gebotene Kürze gewinnt an Bedeutung. Die Reden im Bundestag am 10. Oktober zum Gedenken der Opfer des Hamas-Angriffs auf Israel vor einem Jahr verdeutlichten dieses nicht bloß rhetorische Dilemma.

Merz schürzt antimuslimische Vorurteile

In seiner Rede hob Friedrich Merz (CDU) den starken Anstieg der antisemitischen Straftaten seit dem 7. Oktober 2023 hervor. „In einer wachsenden Anzahl von Städten gibt es faktisch No-go-Areas für Jüdinnen und Juden“, sagte der Unionsfraktionschef. Die Zahlen sind alarmierend. Das Bundesinnenministerium registrierte in diesem Jahr mehr als 3200 antisemitisch motivierte Straftaten, doppelt so viele wie im Vorjahr. Dass unter den Täter*innen auch welche mit Migrationsgeschichte und/oder einem linken Kontext sein dürften, ist klar. Merz verbindet das Gedenken aber sogleich mit einer Forderung: „Ein wesentlicher Beitrag zur Begrenzung des Antisemitismus in Deutschland ist und bleibt der Stopp der ungehinderten massenhaften Zuwanderung vor allem von nicht schutzbedürftigen Männern aus dem arabischen Raum.“ In deren Herkunftsländern sei „nicht der Schutz Israels, sondern die Vernichtung Israels Teil der politischen Sozialisation“.

Diese pauschale Zuschreibung wird den einzelnen Menschen kaum gerecht und basiert auf Ressentiments. Diese Popularisierung, die über Stunden bei Deutschlandfunk Kultur (DLF Kultur) lief, schürt antimuslimische Vorurteile. Nichts Neues von dem Christdemokraten.

Antisemiten sind immer die anderen

In Merz‘ lauter Pauschalisierung schwingt vielleicht auch eine leise Ambivalenz mit. Er verortet den Antisemitismus in seiner Rede offenbar nicht strikt in der weißen Mehrheitsgesellschaft. Wenn er vom „Wesentlichen“ spricht, redet er auch vom „Unwesentlichen“. Dass Menschen mit migrantischem Hintergrund und deutschem Pass auf den Straßen und in den Universitäten Israel- und Judenhass forcieren könnten, scheint zudem nicht reflektiert.

Die Antisemit*innen sind eben immer die anderen, die Fremden. Das unwesentliche Unwesen endete in Deutschland nicht in Auschwitz. Die Geschichte dieser Anfeindungen und Angriffe aus der weißen deutschen Mitte reicht weit in die Gegenwart.

Schweigeminute von Bärbel Bas

Bei der Schweigeminute vor vier Tagen bezeichnete Bärbel Bas (SPD) den Angriff der Hamas auf Israel, bei dem 1200 Menschen ermordet und 250 Menschen verschleppt wurden, als „eine Zäsur (…) für die Jüdinnen und Juden in aller Welt“. Die Bundestagspräsidentin kritisierte auch die Zunahme antisemitischer Straftaten. Über DLF Kultur sagte die Sozialdemokratin: „Der Antisemitismus hat sich auf den Straßen, in den sozialen Medien, sogar an Universitäten hemmungslos Bahn gebrochen.“ Die Betonung von „sogar an“ kann als Botschaft wahrgenommen werden. War Antisemitismus mit all seinen Facetten bis zum 7. Oktober nur im nicht-akademischen Milieu virulent? Diese Sichtweise entlastet und hat offenbar eine lange Tradition.

„Sozialismus der dummen Kerle“

Vom „Antisemitismus“ als „Sozialismus der dummen Kerle“ soll schon um 1880 der Begründer deutschen Sozialdemokratien August Bebel gesprochen haben. Ein Jahr zuvor war der Berliner Antisemitismusstreit ausgebrochen, der bis 1881 andauerte. Ein Aufsatz des Historikers Heinrich von Treitschke, „Unsere Aussichten“, löste den Streit aus. In dem von ihm herausgegeben „Preußischen Jahrbüchern“ schrieb er 1879: „Der Instinkt der Massen hat in der Tat eine schwere Gefahr, einen hochbedenklichen Schaden des neuen deutschen Lebens richtig erkannt: es ist keine leere Redensart, wenn man heute von einer deutschen Judenfrage spricht.“ Weiter führt er aus: „Bis in die Kreise der höchsten Bildung hinauf (…) ertönt es heute wie aus einem Munde: die Juden sind unser Unglück“. 

Antisemitismus in der Mitte der Gesellschaft

Mit diesem Aufsatz befeuerte der Professor, der in Freiburg, Kiel, Heidelberg und Berlin lehrte, gerade durch den akademischen Diskurs die antisemitischen Ressentiments. Der Streit wurde im deutschen Bildungsbürgertum geführt. Der Satz „Die Juden sind unser Unglück“ wurde zur Losung. Und bei den Studierenden? Bereits 1817 flog beim Wartburgfest der Burschenschaften das Werk „Germanomanie“ des jüdischen Schriftstellers Saul Ascher ins Feuer. In einzelnen Burschenschaften waren Juden früh unerwünscht, 1920 ganz offiziell. Auf dem Burschentag in Eisenach beschloss der Dachverband Deutscher Burschenschaft (DB), dass ihre Mitglieder so zu erziehen seien, dass sie kein „jüdisches oder farbiges Weib“ heiraten sollten. Wenn doch, sollte der Bursche ausgeschlossen werden. Bereits 1929 erreichten nationalsozialistische Studenten in Erlangen eine Mehrheit im AStA (Allgemeiner Studentenausschuss). Studierende dieser Couleur warfen bei der Bücherverbrennung 1933 Werke von Thomas Mann bis Heinrich Heine in die Flammen. Heines Mahnung nach der Bücherverbrennung von 1817 – „Das war ein Vorspiel nur, dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen“ – wurde zur vernichtenden Realität.

Von der Burschenschaft bis zur akademischen Szene

Lange her? Sicher, aber ist der Antisemitismus wirklich aus der weiß-deutschen Mitte verschwunden? Im burschenschaftlichen Milieu tauchen heute immer wieder antisemitische Anfeindungen auf. Und in der links-akademischen Szene fallen bei der Imperialismus- und Israel-Kritik oft auch antisemitische Ambivalenzen auf – neben der ganz offenen Position „From the river to the sea“. Und die Mitte? Die Studie „Die distanzierte Mitte“ von Andreas Zick, Beate Küpper und Nico Mokros zeigt für 2020/23, dass jeder Zehnte glaubt, dass „der Einfluss der Juden zu groß“ sei. Acht Prozent meinen, dass jüdische Menschen „nicht so recht zu uns passen“ und betrügerisch wären. Sie stellen erneut eine Zunahme fest, bedingt durch das politische und militärische Vorgehen der israelischen Regierung im Nahostkonflikt. Denn 15 Prozent sagten, sie könnten „gut verstehen, dass man etwas gegen Juden hat“.

Die medial verbreitenden Fragmente der Gedenkreden von Merz und Bas sind wahrlich denkwürdig.

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Autor*innen

Andreas Speit ist Journalist und Autor und schreibt regelmäßig für die taz (tageszeitung). Seit 2005 ist er Autor der Kolumne "Der rechte Rand" in der taz-nord, für die er 2012 mit dem Journalisten-Sonderpreis "Ton Angeben. Rechtsextremismus im Spiegel der Medien" ausgezeichnet wurde. Regelmäßig arbeitete er für Deutschlandfunk Kultur und WDR. Er veröffentlichte zuletzt die Werke  "Verqueres Denken – Gefährliche Weltbilder in alternativen Milieus" (2021) "Rechte Egoshooter" (Hg. mit Jean-Philipp Baeck, 2020), "Völkische Landnahme" (mit Andrea Röpke, 2019), "Die Entkultivierung des Bürgertums" (2019). Alle Beiträge

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