Erinnern Rechtsextremismus
Volkssturm kurz vor Kriegsende: Bis der letzte Mann fällt
Als der Krieg schon verloren war, schickten die Nazis noch Greise und Minderjährige ins Feld. Dieser sogenannte "Volkssturm" forderte in den letzten Monaten vor Kriegsende noch Hunderttausende Opfer.
Im September 1944 hatten die Nazis den Krieg eigentlich schon verloren. Die Frühjahrsoffensive der Roten Armee im Osten führte im Sommer zum Zusammenbruch von Hitlers Heeresgruppe Mitte in Belarus. Am 4. und 5. Juni befreiten die Allierten Rom, ab dem 6. Juni landeten sie zu Hunderttausenden in der Normandie. Doch Adolf Hitler, der Oberste Befehlshaber der Wehrmacht, weigerte sich zu kapitulieren. Um weiteres Blutvergießen deutscher Soldaten zu verhindern, verübt eine Gruppe von Offizieren, Generälen und hochrangigen Beamten aus Hitlers Führungsriege rund um Claus Schenk Graf von Stauffenberg im Juli ein Attentat auf den kriegswahnsinnigen „Führer“; doch das misslingt. Weit weniger bekannt als Stauffenberg ist der Schreiner Georg Elsner, der bereits 1939 versuchte, Hitler in einem Attentat zu töten.
Anfang September steht die Rote Armee vor Warschau und die US-Truppen vor Aachen. Rumänien und Finnland steigen aus dem Krieg aus. Doch anstatt jetzt endlich zu kapitulieren, denken Hitler und Heinrich Himmler, Reichsführer SS und Chef der Heeresrüstung, sich eine neue Grausamkeit aus: Die zwangsweise Entsendung von Rentnern, Invaliden und sogar Kindern an die Front. In der NS-Propaganda heißt das „Volkssturm“.
Sinnloser Propaganda-Tod
Während die Soldaten an der Front sterben wie Fliegen, läuft in Nazi-Deutschland die Propaganda-Maschine auf Hochtouren. Joseph Goebbels spricht noch immer vom „Endsieg“. In diesem Kontext ist auch die Schaffung des „Volkssturms“ zu sehen. Himmler verkündete den „Führererlass“ heute vor 80 Jahren, am 18. Oktober 1944 – dem Jahrestag der Völkerschlacht von Leipzig, als Erinnerung an den Sieg über Napoleon im Jahr 1813. Die Kriegshetze ist wohldurchdacht: Himmler beschwört einen „nationalen Selbstmord“ der Feinde. Doch stattdessen stürzt er deutsche Männer und Kinder in den massenhaften Tod.
Der Volkssturm
Laut Bevölkerungsstatistik gab es in Nazi-Deutschland im Oktober 1944 noch sechs Millionen alte, verkrüppelte und sehr junge Männer. Sie sollten den „Volkssturm“ bilden. Unterstellt waren sie nicht der Wehrmacht, sondern der NSDAP – und konnten so zu allen möglichen Drecksarbeiten verpflichtet werden, die die Nazis für angebracht hielten. Zunächst wurden Männer zwischen 50 und 60 Jahre zum Kriegsdienst verpflichtet. Soldaten, die bereits Gliedmaßen verloren und als „wehruntauglich“ ausgemustert worden waren, wurden wieder eingezogen. Außerdem wurden erst 18- und 17-Jährige und schließlich sogar 16-jährige Jungen an die immer näher rückende Front geschickt.
Keine Ausrüstung, kein Erbarmen
Weil gleichzeitig die Versorgung mit Lebensmitteln und die Rüstungsproduktion aufrechterhalten werden muss, wird jedoch immer nur ein kleiner Teil der dort arbeitenden Männer eingezogen. Während Frauen zu dieser Zeit in allen anderen Bereichen die Kriegswirtschaft am Laufen halten, erlaubt die sexistische Ideologie der Nazis keine Frauen an der Front, was ihnen zumindest dieses Schicksal erspart.
Für die Männer gibt es kein Entkommen. Wer nicht „volksstürmen“ will, wird von der SS erschossen oder öffentlich erhängt. Für die, die kämpfen sollen, gibt es allerdings fast keine Waffen mehr. Die laufende Rüstungsproduktion reicht schon lange nicht mehr aus, um die Wehrmacht zu bewaffnen. Ohne Uniform, ohne Helme, teilweise nur mit Spaten oder Mistgabeln sollen die Kriegslaien sich bis zum letzten Atemzug für den „Führer“ opfern. Auf Fahnenflucht steht Todesstrafe.
Sieben blutige Monate
An der Westfront gab es laut US-amerikanischem Nachrichtendienst kaum wahrnehmbaren Widerstand durch den Volkssturm. Entlang der Ostfront dagegen hatte eine jahrelange Hetzkampagne der Nazis gegen „bolschewistische Untermenschen“ und das grausige Wüten der deutschen Besatzer in den Ostgebieten große Angst vor der Rache der Roten Armee geschürt. Wohl deshalb verteidigten rund 15.000 Angehörige des „Volkssturms“ zusammen mit versprengten Wehrmachtseinheiten über Monate hinweg das von der Roten Armee eingeschlossene Breslau (heute: Wroclaw) in Polen.
Es gibt keine genauen Zahlen darüber, wie viele Tote der „Volkssturm“ forderte. Berechnungen zufolge starben in den letzten vier Kriegsmonaten noch über 1,1 Millionen deutsche Soldaten. Erst am 8. Mai 1945, nachdem Himmler, Hitler und Goebbels schon Suizid begangen haben, kapituliert die deutsche Wehrmacht. Also fast sieben Monate nach der Ausrufung des „Volkssturms“. Wer überlebte, kam zumeist in Kriegsgefangenschaft.
Von „Die Brücke“ bis zu „Charité“
Die Schrecken des Volkssturms und die dramatischen Grausamkeiten, die selbst Kinder dort erleben mussten, wirkten lange nach. 1959 kam der erste Film mit klarer Anti-Kriegs-Botschaft in die Kinos der BRD. „Die Brücke“ basiert auf einem Roman von Gregor Dorfmeister, der selbst mit 16 Jahren zum „Volkssturm“ musste. Die Protagonisten des Films sind sieben Schüler, etwa 16 Jahre alt, die eigentlich an die Front geschickt werden sollen und dann, nach einer Intervention ihres Lehrers, stattdessen abgestellt werden, um eine Brücke in ihrer Heimatstadt zu verteidigen, die militärstrategisch völlig unwichtig ist. Der Film zeigt das sinnlose Sterben in langsamen Szenen. Auch in der ARD-Serie „Charité“ kommt eine Gruppe Hitlerjungen vor, bewaffnet und halb wahnsinnig, die von einem Arzt in einem Zimmer eingeschlossen werden, damit sie in den letzten Tagen des Krieges nicht noch unnötiges Leid anrichten.
Die Graumsamkeit der NS-Ideologie
Im Gedenken an die NS-Zeit muss der millionenfache, systematische Mord an jüdischen, queeren und behinderten Menschen, politischen Gegnern, Widerstandskämpfer*innen und Andersdenkenden im Mittelpunkt stehen. Wichtig ist auch, zu verstehen, dass vor allem die Minderjährigen, die in den letzten Monaten des Krieges noch so zahlreich töteten und starben, ideologisch völlig verblendet und zu allem bereit waren. Sie hatten fast ihr ganzes Leben in der NS-Diktatur verbracht, waren von der Nazi-Propaganda durchdrungen und extrem gefährlich. Aber sie waren eben auch noch Kinder.
In dieser Bereitschaft, die ganze Bevölkerung zu opfern, wie auch daran, dass Minister Goebbels und seine Frau vor dem Freitod sogar ihre eigenen Kinder vergifteten, zeigt sich einmal mehr die ganze Grausamkeit der NS-Ideologie.