Digitalisierung
„AI Shopping“: Hoffen reicht nicht für gute Digitalisierung!
Mit Glitzer und Versprechungen lockt KI uns in einen neuen Kaufrausch. Doch was bedeutet das für Klima, Ressourcen und ethische Standards?
Sascha Lobo bewirbt in seiner Kolumne die Vorteile von „AI Shopping“ und blendet dabei das Wesentliche aus. „AI Shopping“ meint den Einsatz von sogenannter künstlicher Intelligenz beim Einkaufen im Internet. Große Anbieter von Apps, Online-Shops und Suchmaschinen rüsten ihre digitalen Schaufenster derzeit mit KI auf. Das soll die Suche nach Produkten optimieren, bessere Empfehlungen liefern und ganz allgemein den Konsum noch anregender gestalten. Konkret nennt Lobo einen US-Anbieter, der sich aktuell im Wettbewerb um dieses Geschäft positioniert und zukünftig vielleicht auch in der EU einen Chat-Bot anbietet, der einkaufen kann. Die Werbebotschaft des KI-Hoffnungsträgers: „Shop without limits.“
Limits weg
Die Limits, die „AI Shopping“ überwinden will, sind unsere Kaufentscheidungen. Denn lukrative Kundschaft folgt im Rausch ihrem Kaufimpuls. Ein Blick, ein Klick und der Frachtflieger ist unterwegs. Ein paar Monate später liegt das Schnäppchen ungenutzt in der Ecke, auf dem Müll oder ist kaputt. Zeit für Nachschub. Ein Traum für alle, die daran verdienen. Ein Alptraum für den Planeten und einen gesunden Dopaminhaushalt.
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Wer den eigenen Kaufimpuls kontrollieren kann, überlegt vor dem Kauf: Werde ich das Produkt wirklich nutzen? Könnte ich es irgendwo ausleihen? Gibt es nachhaltigere Optionen? Wäre Kauf im Einzelhandel mit Blick auf Garantie, Beratung, Umtausch und Reparatur besser? „AI Shopping“ überbrückt diese limitierenden Kaufentscheidungen und antwortet: Ja, das brauchst du alles und zwar jetzt sofort – ich habe schon bestellt.
„AI Shopping“ demnächst auch mit grünem Glitzer
Natürlich wird früher oder später auch jemand „Green AI Shopping“ erfinden. Das ist dann beispielsweise ein Bot, der uns nach dem Einkauf lobt, weil wir den 300 PS und nicht den 400-PS-SUV gekauft haben. „Super! 300 kg CO2-Äquivalente gespart. Du bist Nachhaltigkeits-Profi! Hier findest du weitere nachhaltige Produkte ….“ „AI Shopping“ ist Glitzer, der den Weltverbrauch steigern wird.
Ich bin hier bewusst einseitig und pauschal, weil ich mir wünsche, dass irgendwer kommt und sagt: „Das stimmt nicht, KI leistet einen grundlegenden positiven Beitrag zu den notwendigen Transformationsprozessen! Hier ist eine nachhaltige, gemeinwohlorientierte digitale Entwicklung, die in der Tiefe und Fläche ebenso skalieren kann, wie die Integration von kaufreizverstärkender KI in alle möglichen Dienste.“ Her damit!
Wenn nur hoffen hilft
Sascha Lobo stellt sich vor, dass KI-Einkaufsassistenten der nächste „Megahit“ im Online-Handel und „wahrscheinlicher Nachfolger“ der Plattformökonomie werden. Als Verbraucher*innen werden wir von diesem Trend profitieren, prophezeit er in seinem Schlusssatz, „[w]eil es schneller geht, einfacher und bequemer – und weil wir im besten Fall mit AI-Shopping eine Instanz zwischen uns und den Verkäufer schalten können, die auf unserer Seite ist. Hoffentlich.“ Hoffentlich? Das erscheint etwas hilflos. Ich halte es für keine gute Idee, auf Hoffnung zu setzen, wenn es um den Einsatz von KI und generell die Gestaltung von Digitalisierung geht. Und wo ist „unsere Seite“ eigentlich? Erfüllt „AI Shopping“ seine Aufgabe, wenn es kurzfristige optionale Konsumbedürfnisse Weniger befriedigt oder wenn diese Technik einen relevanten Beitrag dazu leistet, das zwingende Bedürfnis aller Menschen nach einer planetaren Lebensgrundlage zu erfüllen?
Keine Innovation
Leider windet sich Lobos AI-Shopping-Geschichte um wirklich alles, was an diesem Thema interessant und relevant ist: Die Marktmacht von Big-Tech-Konzernen, Ethik und Regulierung, die Auswirkungen von KI auf Klima und Ökosysteme, die massen- und dauerhafte Sammlung von persönlichen Daten, unsichtbar lenkende Algorithmen und nicht zuletzt die Frage nach Sinn und Nutzen von Technik. Ein simples „höher! schneller! weiter!“ beschleunigt lediglich bekannten Ärger, fürchte ich.
Ressourcenintensive Rechentechnik damit zu beschäftigen, Flugreisen schneller, einfacher und bequemer buchen zu können ist im Wesentlichen keine positive Antwort auf nichts. Die Potenzierung des Altbackenden ist weder innovativ oder intelligent noch interessant. Hoffen bringt nichts: Mehr Konsum führt in Summe zu mehr Emissionen, mehr Verschmutzung der Meere, höheren Müllbergen und zu größerem Verbrauch unserer Umwelt – trotz Verbesserung der Effektivität. Diesen Preis zahlen nicht die, die in den Genuss der neuen alten Bequemlichkeit kommen, sondern die folgenden Generationen. Digitalisierung und Texte über Digitalisierung sind gern smart und sauber, aber das ist nur eine billige und unehrliche Oberfläche.
Überkonsum-Bürokratie
Ich denke, „AI Shopping“ hat das Potenzial bereits in naher Zukunft zu „umweltschädliche[n] Online-Praktiken, [zu gehören,] die etwa zu Überkonsum anregen oder nachhaltiges Nutzen verhindern (…).“ Die neue Kommission der Europäischen Union könnte mit dem geplanten Digital Fairness Act hier korrigierend und regulierend eingreifen.
Ob und wie das passiert bleibt abzuwarten und kann Jahre dauern. Die Folge wäre, im besten Fall, was niemand will: Jahrelanges politisches Gerangel, gefolgt von jahrelangen juristischen Auseinandersetzungen, anschwellende Gesetzestexte und wachsende bürokratische Anforderungen. Aktuell ist die Federal Trade Commission in den USA gegen zwei Datenhändler vorgegangen und hat unter anderem verboten, dass sensible Standortdaten genutzt werden, weil diese verraten können wer sich wann in welchen medizinischen, militärischen oder religiösen Einrichtungen aufhält. Endlose Regulierungsschleifen kosten Zeit, Geld und Nerven. Das könnten wir uns sparen, wenn Investoren, Kommentatoren und Tech-Bros von Anfang an einen etwas anspruchsvolleren Einsatz von Technik anstreben würden. Im schlechtesten Fall kehren wir das digitale Überkonsum-Problem, wie gewohnt, unter den Tisch, externalisieren die Kosten und lassen den Planeten zahlen.
Daten- und Marktmacht
Sascha Lobo lockt uns an der Realität vorbei: „Würden Sie einer künstlichen Intelligenz Ihre Vorlieben, Wünsche und Kreditkartendaten anvertrauen, damit sie Einkäufe erledigt und Ihren Urlaub bucht?“ Die Recherchen von netzpolitik.org zu dem Datenmarktplatz Xandr zeigen, dass nach persönlichen Daten nicht gefragt wird, sondern dass sie möglichst unbemerkt gesammelt, gespeichert und ausgewertet werden. Das Wichtige passiert auch hier unter der Marketing-Oberfläche. Mit Vertrauen hat Datenhandel leider wenig zu tun. Das Angebot lautet: Gib uns und unseren Partnern Zugriff auf dein Geld und lass dich von uns beobachten, damit wir dir deine Kaufentscheidungen abnehmen können.
Ich persönlich halte das für keinen guten Deal, auch weil es mir die Freude am Konsum nimmt. Ich möchte mich länger mit einem Produkt beschäftigen und genau wissen, warum ich genau das und kein anderes kaufe. Ich will entscheiden. Ich will nicht sagen: „Keine Ahnung, warum ich diese Hose trage – hat die KI entschieden, ich zahle nur.“ Abzusehen ist, dass mir „AI Shopping“ nur geben kann, was „AI ready“ ist. Meine kleine Lieblingspension, die Produktserien des nerdigen Herstellers meines Vertrauens oder die wirklich nachhaltige Option wird der Shop-Roboter nicht anbieten können. „AI Shopping“ ist reduziert auf Big-Tech-kompatible Angebote, also die großen Player, deren Marktmacht dem Wettbewerb schadet.
Die Sache mit den Wohlstandsproblemen
Ich teile Sascha Lobos Einschätzung, dass „AI Shopping“ sich „gerade für die spannenden, komplexeren und preisintensiveren Bereiche eignet“. „AI Shopping“ ist also ein super Anlass um über Wohlstand und Klima zu reden, denn: „Je nach Einkommen unterscheiden sich die Treibhausgasemissionen pro Jahr enorm. So verursachen Haushalte mit Nettoeinkommen bis zu 1.000 Euro rund sechs Tonnen, ab einem Haushaltseinkommen von 4.000 Euro netto oder mehr sind es dagegen mit 13 Tonnen mehr als doppelt so viel.“
Das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz sagt: „KI-Technologien haben aber auch ein enormes Potenzial, den ökologischen Herausforderungen unserer Zeit zu begegnen.“ Wo steckt dieses Potenzial im „AI Shopping“? KI-Anwendungen haben einen hohen Verbrauch an Ressourcen, weswegen es naheliegend ist, sie in den Bereichen einzusetzen, wo sie einen relevanten Mehrwert schöpfen. Daran habe ich allerdings meine Zweifel, wenn ich lese, dass ein, auf KI und neue Technologien spezialisierter „Senior Reporter“ das von Sascha Lobo besprochene Tool nutzt, um Zahnpasta zu kaufen.
Bitte berichtet interessanter!
Nach meinem kleinen Exkurs in die Welt der Hoffnungen rund um „AI Shopping“ habe ich den Eindruck, dass oberflächliche und unkritische Beiträge das Thema dominieren. Darum habe ich eine Bitte an diejenigen, die über Digitalisierung schreiben: Bleibt nicht an den Oberflächen hängen, sondern schaut, in welchem Verhältnis Technik zu den entscheidenden Themen unserer Zeit steht: Klima, Wohlstandsverteilung, Machtverhältnisse und so weiter. Das bedeutet keine Ablehnung von Technik, Fortschritt oder Innovation. Es bedeutet lediglich einen realistischen Blick zu wagen. Und es bedeutet interessantere und produktivere Beiträge.