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Das sind die 5 schlimmsten Bürgergeld-Mythen

Arbeitslose wollen nicht arbeiten und leben vom Bürgergeld wie die Made im Speck? Dieser Mythos und andere Vorurteile gegen Bürgergeld-Empfänger*innen tauchen seit Jahren immer wieder auf. Wie die Realität aussieht – und welche Argumente Du in Gespräche mit Freund*innen und Verwandten zu dem Thema mitnehmen kannst.

Symbolbild zum Thema Bürgergeld in Deutschland
Quelle: IMAGO / imagebroker

Gerade zu Weihnachten treffen bei Familientreffen unterschiedlichste Meinungen aufeinander, politische Diskussionen sind oft unvermeidlich. Besonders in diesem Jahr, da der Wahlkampf für die vorgezogene Bundestagswahl bereits läuft. Politiker wie der Kanzlerkandidat der Union, Friedrich Merz, machen da gerne Wahlkampf auf Kosten anderer. 

So will Merz Entlastungen mit Einsparungen beim Bürgergeld finanzieren – und, wenn er Kanzler wird, die Grundsicherung so, wie sie jetzt ist, komplett abschaffen. Solche Pläne passieren mit genau den Vorurteilen und Mythen im Hintergrund, die Bürgergeld-Empfänger*innen entgegengebracht werden. 

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Hier sind die fünf hartnäckigsten Mythen – und wie Du sie widerlegen kannst:

1. Vom Bürgergeld lässt es sich gut leben

Der aktuell festgelegte Regelsatz für alleinstehende Personen liegt bei 563 Euro pro Monat. Zusammenlebende Paare bekommen pro Kopf noch weniger. Zum Vergleich: Im Schnitt liegt das Bürgergeld erheblich unter dem, was Arbeiter*innen im Niedriglohnsektor bekommen. Bürgergeldbeziehende leben unter der Armutsgrenze.

Der Paritätische Wohlfahrtsverband (zur PDF) errechnet jedes Jahr auf einer gesetzlich nachvollziehbareren Grundlage als die Regierung die eigentlichen Regelbedarfe; ihre Berechnung bezieht zum Beispiel die Inflation und generelle Verteuerung mit ein, sowie notwendige Versicherungen (Hausrat, Haftpflicht) und einen angepassten Satz für Bildung, Kultur und Körperpflege. Dinge, die die Bundesregierung entweder gar nicht berücksichtigt oder sehr knapp bemisst. Laut dem Paritätischen müsste der Regelbedarf im Jahr 2024 bei 813 Euro für eine alleinstehende Person liegen – das sind deutlich mehr als die festgelegten 563 Euro.

Das ist schlicht falsch.

Andreas Peichel, Leiter des ifo Zentrums für Makroökonomik und Befragungen, zum Mythos, dass Bürgergeld-Empfangende mehr Geld zur Verfügung haben als Erwerbsarbeitende

2. „Der Staat bezahlt doch alles für die“

Ein Argument, das schnell auftaucht, wenn es um die täglichen Bedarfe geht. Es stimmt, der Staat übernimmt die Kosten für Unterkunft und Heizung, soweit sie angemessen erscheinen. Die Leistungen orientieren sich am Niveau der Mieten auf dem örtlichen Wohnungsmarkt. Was allerdings nicht bezahlt wird, sind neben Gebrauchsgegenständen des täglichen Bedarfs und Lebensmitteln auch die Stromkosten. Der Anteil der Menschen in Deutschland, die mit Strom heizen, stieg zuletzt auf 7,5 Prozent. Zudem ist Strom seit 2021 erheblich teurer geworden. Die Pauschale, die im Regelsatz für Strom vorgesehen ist, ist außerdem oft zu niedrig angesetzt.

Ein weiterer Nachteil für Bürgergeld-Empfangende gegenüber Arbeitnehmenden: Das Jobcenter führt keine Beiträge an die Rentenversicherung für sie ab. Das mindert ihre Rentenansprüche – und erhöht das Risiko, auch im Alter in Armut zu leben.

3. Bürgergeld-Empfänger*innen arbeiten nicht, weil sie faul sind

Julia Klöckner (CDU) behauptete einst, das Bürgergeld „reize nicht zur Arbeit an, sondern eher zum Nichtarbeiten“. Diese Aussage unterstellt, Bürgergeld-Empfangende seien einfach faul. Doch von den knapp 5,5 Millionen Menschen, die Bürgergeld beziehen, können viele nicht anders: knapp zwei Millionen Kinder und Jugendliche zum Beispiel. 

Weitere zwei Millionen stehen dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung, weil sie alleinerziehend sind oder kranke Angehörige pflegen. Auch 800.000 Aufstocker gehören dazu; sie verdienen trotz Arbeit nicht genug zum Leben. Der Rest könnte theoretisch arbeiten, doch die meisten haben gesundheitliche Probleme, zwei Drittel keinen Berufsabschluss. Arbeitgeber scheuen davor, sie einzustellen, und wenn doch, endet die Beschäftigung oft schnell wieder. Von Faulheit kann also keine Rede sein. 

Dass eine Politikerin eine solch vereinfachte und schlicht falsche Aussage öffentlich sagen kann, ohne Widerspruch zu erfahren, verstärkt Vorurteile und zeigt, wie es um die Empathie und die Nähe zur Bevölkerung ihrer dem Namen nach „christlichen Partei“ bestellt ist.

4. Wer Bürgergeld bekommt, muss sich um nix mehr kümmern

Der Mythos des „Nichtarbeitens“ führt zu einem weiteren Irrtum: Bürgergeld-Empfänger hätten nichts zu tun.

Ein Blick auf die Fakten widerlegt dies schnell:

  • Kinder und Jugendliche gehen zur Schule
  • Alleinerziehende oder Pflegende leisten unermüdliche Care-Arbeit, die bekanntlich nie aufhört und quasi ein Rund-um-die-Uhr-Job ist, aber kaum Anerkennung findet
  • Wer gesundheitliche Probleme hat, ist damit beschäftigt, gesund zu werden
  • Andere nehmen an Maßnahmen des Jobcenters teil, verschicken Bewerbungen, erwerben zusätzliche Qualifikationen und haben monatliche Pflichttermine beim Jobcenter

Bezieher von Bürgergeld riskieren harte Sanktionen, wenn sie eine angebotene Arbeit ablehnen oder einen Termin versäumen. Ihr Bürgergeld kann dann für mehrere Monate um 30 Prozent reduziert werden. Die sogenannten “Totalverweigerer”, die sich jeder Maßnahme entziehen, machen nur einen ganz kleinen Anteil von etwa 0,4 Prozent aller Bürgergeld-Empfangenden aus. 

Als „Totalverweigerer“ wird allerdings schon bezeichnet, wer zum zweiten Mal ein Jobangebot ablehnt (gleich, wie schlecht oder unpassend zu den eigenen Qualifikationen es auch sein mag). Das passiert oftmals auch ohne Verhandlungsgrundlage. Diese Person bekommt dann den kompletten Regelsatz für zwei Monate gestrichen. Expert*innen zweifeln allerdings stark daran, dass die Regelung zu diesen sogenannten „Totalsanktionen“ verfassungskonform ist – denn damit würde das vom Grundgesetz geschützte Existenzminimum unterschritten.

Der Verein Sanktionsfrei setzt sich für ein faires Bürgergeld und gegen weitere Verschärfungen der Sanktionsregelungen ein. Denn: Sanktionen treffen vor allem Menschen in besonders prekären Lebensumständen und auch Kinder, die gemeinsam mit ihren Eltern in Bedarfsgemeinschaften leben. Mit einer Petition auf WeAct, der Petitionsplattform von Campact, appellieren sie an die Regierung, das Bürgergeld gerecht zu überarbeiten.

5. „Jeder kann in Deutschland Bürgergeld bekommen, das zieht Migranten an“

Ein Argument, das oft aus der rechten Ecke kommt: Bürgergeld lockt Migranten nach Deutschland. Dazu zum Beispiel Alice Weidel (AfD) im November 2023: „62 Prozent der Familien im Bürgergeldbezug haben keinen deutschen Pass. Ihr Bürgergeld … ist ein Migranten-Geld, ein Einwanderungsmagnet.“

Diese Aussage bezog sich auf eine Statistik der Bundesagentur für Arbeit vom Juni 2023. Laut dieser hatten von den damals 3,93 Millionen Bürgergeld-Beziehern 2,46 Millionen einen Migrationshintergrund – die zitierten 62 Prozent. Diese Zahl differenziert jedoch nicht: Sie umfasst auch Kinder, Kranke, Aufstocker, Alleinerziehende und Pflegende.

Zudem definiert die Agentur für Arbeit auch Menschen als „mit Migrationshintergrund“, wenn mindestens ein Elternteil außerhalb Deutschlands geboren wurde und nach 1949 zugewandert ist. Das können also auch Erwachsene sein, die in Deutschland geboren wurden, die einen deutschen Pass besitzen – auch hier ist die öffentliche Aussage einer Politikerin also schlichtweg falsch, dazu irreführend und aufhetzend.

Ebenso ist zu berücksichtigen, dass im letzten Jahrzehnt viele Geflüchtete nach Deutschland kamen – darunter über 1,1 Millionen Menschen aus der Ukraine. Diese dürfen ohne ein aufwändiges Asylverfahren sofort Bürgergeld beziehen. Asylbewerber*innen haben hingegen keinen automatischen Anspruch auf das Bürgergeld, sie erhalten Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz; dieser Satz ist nochmal deutlich geringer als das Bürgergeld.

Im März 2024 erhielten 722.000 Ukrainer*innen Bürgergeld. Darunter waren 200.000 Kinder und 320.000 in Ausbildung oder als Aufstockende tätig. 186.000 waren arbeitslos. Diese Zahlen sind geringer als oft behauptet und zeigen, dass die Mehrheit der Geflüchteten arbeiten und sich integrieren möchte.


Nicht nur gegen das Bürgergeld wird oft gewettert – auch andere Themen sind von Fake News oder verdrehten Fakten betroffen. Diese Beiträge zeigen Dir, wie Du erfolgreich dagegen argumentierst:

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Autor*innen

Linda Hopius hat Wissenschaftsjournalismus, Politikwissenschaft und Philosophie studiert. Als freie Journalistin schreibt sie zu den Themen Umwelt und Naturschutz. Dazu arbeitet sie als Naturmentorin in der Natur- und Erlebnispädagogik und berichtet darüber auf ihrem Instagram-Kanal @lindasnaturgeschichten. Für Campact arbeitet sie seit 2024 als freie Redakteurin. Alle Beiträge

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